»Ich nehme an, das war gestern, nachdem er aus der Stadt zurückgekommen ist«, vermutete Andrej. Er hatte es bisher vermieden, Laurus oder irgendeinen der anderen nach dem Ausgang des Gesprächs mit Schulz zu fragen, aber er konnte sich dessen Inhalt auch so vorstellen.
Bason nickte. »Wir wollen keinen Ärger mit der Obrigkeit.«
»Den werdet ihr auch nicht bekommen«, sagte Andrej. »Ich weiß nicht, wohin Abu Dun geritten ist und warum. Aber all seine Sachen sind noch hier. Er wird zurückkommen. Und ich kann dich beruhigen. Ich kenne ihn lange genug. Wenn er nicht will, dass ihn jemand sieht, dann sieht ihn auch niemand.«
»Hauptsache, Laurus sieht ihn nicht«, sagte Bason mit einem schiefen Grinsen. »Wir haben noch ein wenig Zeit bis zur ersten Vorstellung.« Er wedelte mit der verbundenen rechten Hand. »Bringst du mir noch ein paar Tricks bei?«
»Soll ich dir die andere Hand auch noch zerschlagen?«, fragte Andrej finster. »Vergiss es. Es war ein Fehler, überhaupt damit anzufangen.«
»Es war allein mein Fehler«, sagte Bason. »Niemand wirft dir etwas vor.«
Andrej öffnete den Mund zu einem Widerspruch, doch dann zögerte er, Bason eine endgültige Abfuhr zu erteilen. Warum eigentlich nicht? Die Worte seines Gegenübers klangen ehrlich. Obwohl er Bason ziemlich übel verletzt und ihm zweifellos eine Menge Schmerzen bereitet hatte, schien er ihm den kleinen Unfall tatsächlich nicht nachzutragen, und schließlich konnte er selbst ja nichts dafür, dass die Theaterwaffen aus minderwertigem Material gefertigt waren. Was vergab er sich schon, wenn er diesem Jungen noch ein paar kleine Tricks beibrachte, mit denen er bei den anderen angeben konnte?
Und dann musste er an das denken, was Abu Dun gesagt hatte. Die Worte erschienen ihm nach wie vor so absurd wie vorhin, als er sie aus dem Mund des Nubiers gehört hatte, und dennoch konnte er sich ihrer Wahrhaftigkeit nicht entziehen. Was war das mit Bason und seinem Bruder, dass es ihm völlig unmöglich schien, ihm nur die geringste Bitte abzuschlagen?
»Vielleicht später«, sagte er - wobei ihm der enttäuschte Ausdruck in Basons Gesicht ein so schlechtes Gewissen bereitete, dass er seine Worte um ein Haar wieder zurückgenommen hätte. »Morgen. Oder übermorgen. Glaub mir, Bason, es ist besser. Ich kenne mich mit Verletzungen aus. Auch wenn du jetzt vielleicht schon keine Schmerzen mehr hast, wäre es ein Fehler, die Hand schon jetzt zu sehr zu belasten. Wenn du es übertreibst, dann wird es nur umso länger dauern, bis du sie wieder richtig gebrauchen kannst.« Bason machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, aber er versuchte auch nicht, Andrej zu überreden, sondern drehte sich einfach um und ging davon. Und plötzlich fühlte sich Andrej so schlecht, als hätte er einem verhungernden Kind das letzte Stück Brot weggenommen.
Andrej hatte sich tatsächlich in seinen Wagen zurückgezogen, die Läden geschlossen und versucht, zu schlafen. Aber er hatte keine Ruhe gefunden. Trotz des Zustandes totaler körperlicher Erschöpfung, in dem er sich befand, lag er mehr als eine Stunde auf seinem unbequemen Lager wach und starrte in die allmählich verblassende Dämmerung. Und natürlich war es wie immer, wenn man darauf wartete, einzuschlafen: Er hatte das Gefühl, immer wacher zu werden.
Je dunkler es wurde, desto schärfer schienen seine Sinne zu werden. Die Musik, die von draußen hereindrang, klang jetzt lauter und aufpeitschender, das Lachen der Zuschauer schriller, selbst das prasselnde Feuer schien die Lautstärke eines gewaltigen Waldbrandes angenommen zu haben. Er roch den Duft von Gebratenem und das Aroma des schweren, süßen Weines, den die Sinti großzügig ausschenkten, und er konnte hören, wie weitere Besucher zu Pferde oder auch mit Fahrwerken oder zu Fuß ins Lager kamen. Einmal glaubte er, einem kurzen, heftigen Streit zu lauschen, der aber ebenso rasch wieder geschlichtet wurde, wie er entstand, und dann drang das helle Lachen einer Frau an sein Ohr, und es war dieses Geräusch, das ihn endgültig dazu bewog, sich auf der Bettkante aufzusetzen.
Es war Elenas Lachen gewesen.
Müde fuhr sich Andrej mit beiden Händen durch das Gesicht, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ den Blick durch das Innere des winzigen, noch immer unaufgeräumten Wagens wandern. Elenas Lachen hatte ihm klargemacht, warum er keinen Schlaf fand, so, wie ihm das, was er sah, klarmachte, dass er auch keinen Schlaf finden würde. Alles hier drinnen, jeder Fußbreit Boden, die leer gebrannte Sturmlaterne, die in einem Winkel neben der Tür stand, die verwischten Fußabdrücke im Staub, das fast silberne Mondlicht, das in schrägen Bahnen durch die Ritzen der vorgelegten Läden fiel, erinnerte ihn an Elena. So, wie er den ganzen Tag über eigentlich nur an sie gedacht hatte.
Er hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber es war die Wahrheit: Auch wenn er sich krampfhaft mit allen möglichen Dingen beschäftigt hatte, so war doch keine Sekunde vergangen, in der er nicht auf einer tieferen Ebene seines Bewusstseins an sie gedacht hatte. Und als hätte dieses Eingeständnis die Gespenster der vergangenen Nacht geweckt, glaubte er plötzlich wieder ihre Nähe zu spüren, den verlockenden Duft ihres Haares und ihres Körpers, das seidige Gefühl ihrer Haut auf der seinen und den süßen Geschmack ihrer Lippen. Für einen Moment mischte sich ein hässliches Bild in diese Erinnerungen: Elenas Zunge, die mit einer kleinen, gierigen Bewegung über ihre Lippen fuhr und eine glitzernde rote Träne aufsog, aber das Bild erlosch, bevor es wirklich Substanz gewinnen konnte, und Andrej stand mit einem Ruck auf. Fast hatte er Angst davor, Elena zu begegnen, und zugleich wusste er auch, dass er keine Ruhe finden würde, bevor er ihr nicht wenigstens noch einmal in die Augen geblickt hatte.
Als er den Wagen verließ, drangen Gelächter und Beifallklatschen so laut an sein Ohr, dass er überrascht aufsah. Er konnte nur flackernde, rote Lichtsplitter und tanzende Schatten erkennen, aber dann hörte er ein dröhnendes, überhebliches Lachen, das er auf Anhieb erkannte. Abu Dun war zurück. Und offensichtlich war er nicht mehr ganz so gereizter Stimmung wie am Vormittag. Und obwohl er dem Freund geraten hatte, zu verschwinden, war er zugleich auch sehr erleichtert, dass er es nicht getan hatte. Als er sich dem Festplatz in der Mitte des Lagers näherte, rief eine Stimme hinter ihm seinen Namen und Andrej blieb überrascht stehen und drehte sich um. Ein Schatten tauchte aus der Dunkelheit hinter ihm auf und zerfiel in vier unterschiedlich große Schatten, die nur einen Moment später Umrisse und Gesichter bekamen. Es war der Krämer, den sie vor ein paar Tagen in der Stadt getroffen hatten, begleitet von seinen beiden Söhnen und einer unscheinbaren Frau, die ihn mit gesenktem Blick und fast furchtsam musterte. Andrej erinnerte sich an sein letztes Zusammentreffen mit diesem Mann und spannte sich innerlich ein wenig. Er hatte keine Angst vor ihm und seinen beiden Begleitern, aber er hoffte inständig, dass sie nicht gekommen waren, um Ärger zu machen.
»Ihr erinnert Euch doch an mich?«, fragte der Krämer, während er einige Schritte vor Andrej stehen blieb und ihn unsicher ansah. Andrej nickte. »Selbstverständlich.«
»Dann bin ich erleichtert«, sagte der Krämer. »Ihr hattet mir versprochen, dass meine Familie und ich uns Eure Vorstellung ansehen dürfen«, fuhr der Mann fort. Er wirkte verkrampft und sprach in einem Tonfall, als wäre er fest davon überzeugt, dass Andrej seine Bitte einfach abschlagen musste. »Gilt Euer Wort noch?«
»Unser Wort gilt immer«, sagte Andrej, bemühte sich aber, dieser Aussage mit einem Lächeln die Schärfe zu nehmen, die man leicht darin vermuten konnte.
»Kommt mit«, sagte er. »Ich bringe Euch zu den anderen und sage Bescheid, dass ihr nichts bezahlen müsst.«
Der Krämer wirkte erleichtert und erschreckt zugleich, als bekäme er allmählich Angst vor der eigenen Courage, und Andrej fragte sich, warum er überhaupt hierher gekommen war. Sicher nicht, um den Gauklern und Feuerschluckern zuzusehen. Er wartete vergeblich darauf, dass der Mann noch irgendetwas sagte und ging schließlich mit einer einladenden Geste voraus.