Es war das erste Mal, dass er das Lager am Abend und Laurus' Sippe in einer solch ausgelassenen Stimmung erlebte, und gleich, ob aufgesetzt oder nicht, sie wirkte ansteckend. Als sie die Bühne erreichten, auf der gerade ein Feuerschlucker seine Fertigkeiten zum Besten gab und dabei sein Möglichstes zu tun schien, um die Dekoration und am besten gleich das ganze Lager in Brand zu setzen, da fühlte er sich zwar alles andere als fröhlich, aber seine niedergeschlagene Stimmung war trotzdem einer heiteren Gelassenheit gewichen. Als er nach jemandem Ausschau hielt, in dessen Obhut er seine vier Gäste geben konnte, entdeckte er Abu Dun. Der Nubier stand ein Stück entfernt inmitten einer kleinen Menschenansammlung und prahlte mit lauter Stimme von zurückliegenden Abenteuern und überstandenen Gefahren. Zu Andrejs Verwunderung entdeckte er auch Laurus unter den Zuhörern, die den Worten des Nubiers gebannt folgten, und vielleicht zum ersten Mal, seit sie hierher gekommen waren, sah der Sinti nicht übellaunig oder besorgt aus, sondern schien ganz in Abu Duns Erzählung versunken zu sein. Die fast kindliche Begeisterung, die Andrej auf seinen Zügen entdeckte, unterschied sich in nichts von der auf den Gesichtern der anderen.
Natürlich entdeckte ihn Abu Dun, als er näher kam, doch der Freund ignorierte ihn und fuhr nicht nur fort, seine haarsträubenden Geschichten zu erzählen, sondern trumpfte sogar noch mehr auf. Andrej machte sich nicht die Mühe, wirklich hinzuhören, aber auf seinem Gesicht begann sich ein amüsiertes Lächeln auszubreiten, während er langsam näher schlenderte. Abu Dun sah zwar aus wie ein Dschinn aus einem arabischen Märchen, der gekommen war, um die gesamten christlichen Kreuzfahrerheere auf einmal zu verspeisen. Aber er war auch ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler, und er tat dies auf seine typisch orientalische, blumige Art so perfekt, dass er seine Zuhörer fast immer in seinen Bann zog und es keine Rolle spielte, ob sie ihm seine Geschichten glaubten oder nicht. Wären die Zeiten anders gewesen, dachte Andrej mit einem Anflug von Trauer, dann wäre Abu Dun jetzt vielleicht ein reicher Mann. Mit einem solchen Talent wäre es ihm gewiss nicht schwer gefallen, als Märchenerzähler von Stadt zu Stadt zu ziehen und die Zuhörer in Scharen anzulocken.
Abu Dun war am Ende seiner Geschichte angelangt. Die Zuhörer applaudierten - Laurus eingeschlossen -, und der Beifall war noch nicht ganz verebbt, da erschien Bason auf der Bühne und nahm den Platz des Feuerschluckers ein.
»Geehrte Gäste!«, rief er mit tragender Stimme. »Und nun kommen wir zum Höhepunkt des Abends. Das Talent als Geschichtenerzähler unseres verehrten Gastes aus dem fernen Morgenland habt Ihr ja nun schon kennen gelernt, und doch ist das nichts gegen das, was Euch jetzt erwartet! Unser hoch geschätzter Gast, der in seiner Heimat vom gefürchteten Piraten fast bis zum Kalifen von Bagdad aufgestiegen ist, übernimmt nun die Hauptrolle in einem Drama, das eigens für Sie, verehrte Gäste, geschrieben wurde, und in dem Sie den verzweifelten Kampf christlicher Kreuzfahrer gegen die heidnischen Horden der Muselmanen miterleben können, wie er sich in längst vergangener Zeit wirklich abgespielt hat.«
Zaghafter Applaus wurde laut, als Bason sich verbeugte, und brandete auf, als Abu Dun auf die Bühne stieg und seinen schwarzen Mantel zurückschlug, unter dem ein kupferfarbener Brustharnisch und der Griff seines Krummsäbels zum Vorschein kamen.
Andrej beobachtete die Szene mit gemischten Gefühlen. Abu Dun als Geschichtenerzähler, das ging noch an, aber es fiel ihm einfach schwer, zu glauben, dass der Nubier sich tatsächlich freiwillig vor einem halben Hundert wildfremder Menschen zum Narren machen sollte; schon gar nicht nach dem, was am Vormittag zwischen ihnen vorgefallen war. Und doch schien Abu Dun genau dies vorzuhaben, denn er stolzierte nicht nur gemessenen Schrittes über die Bühne, sondern nahm schließlich breitbeinig und mit verschränkten Armen hinter Bason Aufstellung. Und er überragte den Jungen wie ein Fleisch gewordener Berg, der sich alle Mühe gab, das Publikum mit möglichst finsterem Gesicht zu mustern. Das Johlen und Klatschen hielt an, und es mischte sich auch der eine oder andere anerkennende Pfiff hinein. Andrej musste zugeben, dass Abu Dun selbst in der Rolle des Hanswurst immer noch Respekt gebietend und Furcht einflößend wirkte, wie er so dastand mit seinem riesigen Turban, sicherlich sieben Fuß groß, ein Koloss, dem man ansah, dass sich unter den enormen Fleischmassen stahlharte Muskelpakete verbargen.
»Abu Dun, der gewaltigste Schwertkämpfer des Orients«, sagte Bason mit dramatisch erhobener Stimme. »In der Sprache seiner Heimat bedeutet sein Name Vater des Todes, und wie Sie gleich sehen werden, geschätztes Publikum, trägt er seinen Namen zu Recht.«
Der Applaus wurde für einen Moment geradezu frenetisch. Bason verbeugte sich noch einmal und verschwand dann mit schnellen Schritten hinter der Bühne, während Abu Dun weiter reglos stehen blieb und das Publikum musterte, als wäre er auf der Suche nach jemandem, den er mit Haut und Haaren verschlingen konnte.
»Dein Freund ist ein beeindruckender Mann, das muss man ihm lassen«, sagte eine Stimme neben ihm. Andrej wandte den Kopf und erkannte Laurus, der sich seinen Weg durch die Menschenmenge gebahnt hatte, um an seine Seite zu gelangen. Hinter ihm kam eine zweite, etwas kleinere Gestalt näher, und Andrej wäre um ein Haar zusammen gefahren, als er sah, dass es Elena war. Er gab sich Mühe, sie nicht Direkt anzusehen, ohne ihrem Blick dabei allzu offen auszuweichen. »Ist er wirklich so gefährlich, wie er aussieht, und wie Bason behauptet?«, wollte Laurus wissen.
»Nicht, wenn man sein Freund ist«, erwiderte Andrej.
»Und was sagen seine Feinde über ihn?«, wollte Elena wissen.
Andrej hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Bisher hat noch keiner von ihnen lange genug überlebt, als dass ich ihn hätte fragen können.«
Laurus lachte leise. Elena drängte sich mit sanfter Gewalt zwischen sie und hakte sich zuerst bei ihrem Mann, und dann ganz unverblümt bei Andrej unter. Andrej erstarrte für einen Moment, aber Laurus schien daran nichts Ungewöhnliches zu finden, und genau genommen war es ja nichts weiter als eine freundschaftliche Geste unter Menschen, die nach einem langen, arbeitsreichen Tag ein wenig ausgelassen feierten.
Wenigstens wäre es das gewesen, hätte das Gefühl von Elenas bloßer Nähe und ihre Berührung ihn nicht beinahe in den Wahnsinn getrieben. Für einen Moment musste er mit aller Kraft gegen den Impuls ankämpfen, sie einfach an sich zu reißen und zu küssen, und zugleich wäre er am liebsten schreiend davongelaufen.
»Ungläubige!«, schrie Abu Dun von der Bühne herab. »Fürchtet euch, denn Abu Dun ist gekommen, der Vater des Todes, um in Allahs Namen die Gottlosen zu zerschmettern und die zu bestrafen, die es wagen, an den Worten des Propheten zu zweifeln!«
Elena lachte leise, und auch Laurus verzog kurz das Gesicht, aber Andrej war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Er starrte Abu Dun fast entsetzt an. Die meisten Zuschauer - die Sinti eingeschlossen - lachten herzhaft, aber einige wirkten auch irritiert, und vielleicht diente das eine oder andere Lachen auch nur dazu, den eigenen Schreck zu überspielen. Wenn Abu Dun auf Wirkung gezielt hatte, so hatte er Erfolg. Aber er spielte mit dem Feuer, und eigentlich sollte er das auch wissen. »Ja, lacht nur, ihr Ungläubigen! Lacht, solange ihr noch könnt! Denn ich, Abu Dun, der Vater des Todes, bin gekommen, um euch herauszufordern und die zu bestrafen, die es wagen, an Allahs Allmacht zu zweifeln!«
Elena lachte noch ein wenig lauter, aber Laurus' Lächeln begann allmählich zu erstarren, und auch Andrej fühlte sich immer unbehaglicher.
Der Vorhang hinter Abu Dun teilte sich, und dann traten Bason und sein Bruder vor. Bason trug einen gewaltigen Hackklotz, den er vor dem Nubier abstellte, während Rason einen kaum weniger großen Holzscheit herbeischleppte; so lang wie ein Arm und zwei gute Handspannen dick. Um einen Scheit wie diesen zu spalten, hätte es einer jener gewaltigen Kriegsäxte bedurft, die man nur mit zwei Händen führen konnte, und selbst dann nur, wenn man stark war wie ein Ochse. Abu Dun jedoch benutzte keine Axt. Nachdem die beiden Brüder zurückgetreten waren, zog er seinen Krummsäbel, schwang ihn mit beiden Händen hoch über den Kopf und spaltete das Holz mit einem einzigen, gewaltigen Hieb. Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge, hier und da auch ein erschreckter Aufschrei.