»Wieso?«, fragte Abu Dun. »Könnt Ihr Euch auch nur vorstellen, was alle, die uns gerade zugesehen haben, ihren Freunden, Verwandten und Nachbarn in der Stadt erzählen werden?«
»Ja, das kann ich nur zu gut«, sagte Laurus bitter.
»Spätestens morgen werden sie in Scharen hierher strömen«, fuhr Abu Dun fort. »Ihr könnt an Eintritt verlangen, so viel Ihr wollt. Jeder wird jeden Preis zahlen, um den Mann zu sehen, der den Tod besiegt.«
Laurus starrte ihn fassungslos an. »Großer Gott, ich befürchte, du meinst das ernst«, murmelte er. Als er sich zu Andrej umdrehte, wirkte er plötzlich unendlich müde. In fast flehendem Tonfall fuhr er fort: »Vielleicht sollte ich dem Muselmanen nicht böse sein, denn anscheinend weiß er es nicht besser. Aber von Euch, Andreas, hätte ich mehr Vernunft erwartet. Könnt Ihr auch nur erahnen, was geschieht, wenn Schulz und dieser Handmann von dem hören, was hier heute Abend passiert ist? Oder wenn sie es gar selbst sehen?«
Andrej schwieg und hielt Laurus' Blick gelassen Stand. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Abu Dun gekonnt den Verdutzten spielte und mit einem Ausdruck der Überraschung die Augen aufriss. »Aber -«
»Aber«, sagte Laurus und nickte. »Gott im Himmel, wir können froh sein, wenn sie mit einer Hundertschaft Soldaten hierher kommen und uns nur peinlich verhören, statt gleich das Lager anzuzünden und zuzusehen, wie wir verbrennen. Ihr und Euer närrischer Freund, Andreas, Ihr habt uns ...« Er rang sichtlich um Worte, schien aber nicht imstande, seinem Entsetzen Ausdruck zu verleihen und wandte sich abrupt um. »Ich muss ... nachdenken«, sagte er. »Grundgütiger Gott, was habt ihr nur getan?« Mit diesen Worten stürmte er fast fluchtartig aus dem Wagen Elena sah ihm traurig nach blickte dann zu Andrej und schien etwas sagen zu wollen. Doch dann beließ sie es bei einem Kopfschütteln und folgte ihrem Mann mit hängenden Schultern.
Andrej wartete einen Moment, dann ging er zur Tür, um sich davon zu überzeugen, dass niemand vor dem Wagen stand und sie belauschte. Schließlich drehte er sich zu Abu Dun herum und sah ihm fest ins Gesicht.
Der riesige Nubier lehnte lässig an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt, ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ist dir eigentlich klar, was du getan hast?«, fragte Andrej.
Er sprach sehr leise, flüsterte fast. Er wollte schreien, wollte wütend werden, ja, er wünschte sich fast, die Kraft zu haben, um sich auf Abu Dun zu stürzen und auf ihn einzuschlagen. Aber in ihm war nur kaltes Entsetzen, und ein Zorn von bisher nie da gewesener Qualität, der auch nicht weichen würde, wenn er seinen Gefühlen gewaltsam Ausdruck verlieh.
»Ich hab dich gewarnt«, sagte Abu Dun, ebenso leise und ebenso ernst. Er lächelte nicht mehr. »Aber du hast mir ja keine andere Wahl gelassen.«
»Keine andere Wahl als was?«, fragte Andrej. »Aller Welt mein Geheimnis zu offenbaren?«
Statt einer Antwort nahm Abu Dun die Arme herunter und begann, im Wagen auf und ab zu gehen. »Laurus hat Recht, weißt du?«, sagte er schließlich. »Spätestens morgen werden unsere Freunde aus der Stadt hier erscheinen, und sie werden wissen wollen, wie unser kleines Zauberkunststückchen funktioniert.« Er blieb stehen und lächelte Andrej zu. »Ich fürchte sogar, sie werden ziemlich nachdrücklich darauf bestehen, dass wir ihnen das Geheimnis verraten.«
»Du weißt genau, dass ich das nicht kann.«
Abu Dun hob die Schultern. »Dann bleibt uns nur noch ein einziger Ausweg.« Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Brechen wir sofort auf, oder warten wir, bis alle Zuschauer nach Hause und deine Freunde schlafen gegangen sind?«
»Du bist wahnsinnig«, sagte Andrej. »Weißt du, was du getan hast?«
»Dafür gesorgt, dass wir von hier verschwinden«, sagte Abu Dun ruhig. »Es sei denn, du findest Gefallen an dem Gedanken, die Attraktion von heute Abend in den nächsten beiden Wochen Tag für Tag zu wiederholen. Wer weiß, vielleicht werden wir wirklich reich mit diesem Kunststück. Doch wenn du mich fragst, wird uns das eher auf den Scheiterhaufen bringen.«
»Du hast die ganze Sippe hier zum Tode verurteilt«, sagte Andrej leise. »Um Himmels willen, Abu Dun, ist dir das nicht klar? Weißt du nicht, was passiert, wenn sie morgen kommen und nach uns suchen, und wir sind nicht mehr hier? Sie werden Laurus, Elena und jeden einzelnen der Familie vor die Inquisition schleifen und auf den Scheiterhaufen werfen.«
»Ach was«, sagte Abu Dun leichthin. »Sie werden ein paar unangenehme Fragen beantworten müssen, werden die ganze Schuld auf uns schieben - vermutlich auch das, was diesem Simpel von Müller und deinem Freund, dem Pfaffen, zugestoßen ist - und dann wird man sie davonjagen. Niemand wird zu Schaden kommen.«
»Und wenn doch, was macht es schon? Wir werden ja ohnehin nichts davon erfahren, nicht wahr?«, rief Andrej aufgebracht. Er war fassungslos. Er hatte Abu Dun nie als sonderlich gefühlsbetonten Mann kennen gelernt und schon gar nicht als jemanden, der übermäßig viel Rücksicht auf das Schicksal anderer nahm. Immerhin hatte der Nubier in den ersten Jahrzehnten seines Lebens nicht schlecht davon gelebt, Menschen zu verkaufen. Und dennoch fiel es ihm schwer, zu glauben, dass Abu Dun das Leben Dutzender Unschuldiger aufs Spiel setzen wollte, nur um seinen Willen durchzusetzen.
»Ich gehe und sattle die Pferde«, sagte Abu Dun. »In einer Stunde bin ich fort. Und wenn du auch nur noch eine Spur von Verstand hast, dann begleitest du mich.«
Andrej trat widerspruchslos zur Seite, um ihn vorbeizulassen, und er sagte auch nichts, als Abu Dun den Wagen verließ und mit schnellen Schritten in der Dunkelheit verschwand. Irgendwie fiel es ihm immer noch schwer, zu glauben, was er gerade selbst erlebt hatte. Das war nicht der Abu Dun, den er kannte. Das war nicht einmal der Abu Dun, den er einmal gekannt hatte.
Und das Allerschlimmste war: Der Freund hatte Recht. Sie konnten nicht länger hier bleiben. Nicht nach dem, was Abu Dun getan hatte und dessen all diese Menschen Zeugen geworden waren.
Müde ließ er sich auf die Bettkante sinken, verbarg das Gesicht in den Händen, und versuchte, Klarheit in seine Gedanken und Gefühle zu bringen. Es gelang ihm nicht. Je angestrengter er es versuchte, desto verwirrter und hilfloser fühlte er sich. Es war, als hindere ihn etwas daran, geordnet zu denken und zu erkennen, was in dieser Situation zu tun war.
Ein Geräusch bei der Tür riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Andrej ließ die Hände sinken, darauf gefasst, Laurus oder einen seiner Stiefsöhne zu erblicken, möglicherweise auch Abu Dun, der zurückgekommen war, um noch ein wenig Salz in seine Wunden zu reiben. Aber er konnte nur einen Schatten erkennen, der auf unheimliche Weise fast keine Substanz zu haben schien, als ob selbst das Mondlicht, das durch die Fenster hereinströmte, seine Berührung fürchtete. Doch noch bevor sie den ersten Schritt auf ihn zu tat, erkannte er ihren Duft und den vertrauten Rhythmus ihres Atems.
»Elena«, murmelte er. »Warum bist du zurückgekommen? Du solltest nicht hier sein.«
»Hier ist der einzige Ort, an dem ich im Moment sein sollte«, erwiderte Elena und kam auf ihn zu. Er hörte das Rascheln von Stoff, und noch bevor sie ihn ganz erreicht hatte, ließ sie das Kleid von den Schultern gleiten und trat mit einem einzigen Schritt vor ihn.
»Nicht«, murmelte Andrej. Er schloss die Augen und ballte die Hände fest zu Fäusten, aber es nutzte nichts. Auch mit geschlossenen Augen sah er sie so vor sich stehen, wie sie war, nackt und verlockend und in ihrer ganzen, unbeschreiblichen Schönheit. Es war der unpassendste aller nur denkbaren Momente, aber Andrej war hilflos gegen das, was sie in ihm auslöste.