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»Was übrigens nicht dein Verdienst ist«, fügte Abu Dun hinzu, nachdem er einen weiteren Becher mehr als zur Hälfte geleert hatte. »Vielen Dank auch für deine Hilfe.«

Die Bemerkung ärgerte Andrej. »Ich bitte untertänigst um Vergebung«, antwortete er spitz. »Ich war abgelenkt. Das ist unverzeihlich, ich weiß, aber ich war gerade mit dem Sterben beschäftigt.«

Abu Dun stürzte den Rest seines Weins hinunter, griff nach dem Krug und sah Andrej aus verschleierten Augen an. »Wo wir gerade beim Sterben sind ... wieso lebst du eigentlich noch?«

Abu Dun deutete auf Andrejs Brust. »Du hattest einen Dolch im Herzen, wenn ich mich nicht irre. Hast du mir nicht immer erzählt, ein Stich ins Herz würde selbst dich umbringen?«

»Vielleicht hab ich ja nicht die Wahrheit gesagt«, knurrte Andrej. Gleichzeitig ermahnte er sich zur Mäßigung. Abu Dun hatte völlig Recht. Neben offenem Feuer war ein gezielter Stich ins Herz eine von wenigen Möglichkeiten, einen Vampyr wirklich zu töten. Und er hatte gespürt, wie der Dolch in sein Herz eindrang und es zerschnitt. Ja, wieso lebte er eigentlich noch?

In etwas versöhnlicherem Ton sagte er: »Ich weiß es nicht.«

»Aber ich«, verkündete Abu Dun triumphierend.

»Du?«

Abu Dun genoss Andrejs Überraschung. »Man muss die Waffe stecken lassen, weißt du? Nicht herumdrehen oder besonders tief hineinstoßen oder sonst irgendwas, einfach nur stecken lassen. Der Stahl verhindert, dass sich die Wunde schließt, und das Blut fließt aus deinem Herzen heraus. Schneller, als deine Zauberkräfte es ersetzen können. Es dauert eine Weile, aber am Ende verblutest du. Wie ein ganz normaler Mensch.«

»Woher weißt du das?«, fragte Andrej.

Abu Dun grinste breit, schenkte sich nach und nahm einen tiefen Zug. Er schwieg. Andrej starrte ihn zornig und verwirrt zugleich an. Er kannte Abu Dun gut genug, um zu wissen, dass der Nubier seine Rolle viel zu sehr genoss, um mit etwas anderem als rätselhaften Andeutungen rauszurücken.

Nachdenklich griff er nach dem Becher, den der junge Sinti stehen gelassen hatte, roch daran und schenkte sich schließlich ebenfalls aus dem Krug ein, den er Abu Dun fast mit Gewalt entreißen musste. Der Wein hatte einen vollen, exotischen Geschmack, und er war so schwer, dass Andrej Abu Duns schleppende Sprechweise sofort verstand. Ihm selbst hätte wahrscheinlich ein einziger Becher gereicht, um seine Sinne zu betäuben. So nippte er nur kurz an dem Getränk und nutzte die Zeit, um sich aufmerksam umzusehen.

Die beiden Kerzen erfüllten das Wageninnere mit mehr Schatten als Licht, sodass er nur vage Umrisse erkennen konnte. Es gab einen niedrigen Diwan, der mit zahllosen, bunt bestickten Decken und Kissen belegt war, und an den Wänden hingen Bilder, Stickereien und geschnitzte Heiligenfiguren. Der Raum war deutlich kleiner, als Andrej beim Anblick des Wagens vermutet hätte, und es dauerte eine ganze Weile, bis er die Umrisse einer Tür in der rückwärtigen Wand entdeckte. Offensichtlich führte sie zu einem zweiten Raum.

Andrej lauschte. Nicht nur mit seinen menschlichen Sinnen. Er hätte gespürt, wenn außer ihnen noch jemand im Wagen gewesen wäre. Und für einen Moment schien es, als nehme er etwas in dieser Richtung wahr. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass er sich geirrt haben musste. Sie waren allein.

»Abu Dun, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt«, sagte er schließlich ruhig. »Wo sind wir hier? Was sind das für Leute? Und wieso haben sie uns geholfen?«

»Das fragst du sie am besten selbst«, kicherte Abu Dun.

»Was zum Teufel... ?«

In diesem Moment wurde die Tür des zweiten Raums geöffnet und eine schmale, gebeugte Gestalt trat ein. Andrej fuhr so erschrocken zusammen, dass er etwas von seinem Wein verschüttete. Blutrot glitzerten die Tropfen auf der fleckigen Tischplatte, und sein Herz begann zu hämmern.

Was er sah, konnte unmöglich sein. Bei der Person, die hereingekommen war, handelte es sich offensichtlich um eine Frau, obwohl sie so gebückt ging, dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Aber sie hätte nicht da sein dürfen! Er hätte es spüren müssen, dass außer ihnen noch jemand im Wagen war. Und doch nahm er die Anwesenheit der Alten noch nicht einmal jetzt wahr, da er sie mit eigenen Augen sah!

Er wollte aufstehen, aber die alte Frau schüttelte den Kopf und kam mit schlurfenden Schritten näher. Erst, als sie den Tisch erreicht hatte, wurde ihr Antlitz vom flackernden Lichtschein der Kerzen erhellt, und Andrej erblickte die Züge des ältesten Menschen, dem er jemals begegnet war.

Obwohl ihr Haar, das ihr in langen, dünnen Strähnen ins Gesicht und bis weit auf die Brust fiel, noch immer von satter, schwarzer Farbe war, schätzte Andrej ihr Alter auf mindestens hundert Jahre. Ihr Gesicht war eine Landschaft aus Runzeln und so tiefen Falten, dass sie wie Messerschnitte wirkten. Die Lippen waren nicht mehr als solche auszumachen, und in dem eingefallenen Mund waren wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten keine Zähne mehr. Ihr Gesicht musste in jungen Jahren voll gewesen sein, doch jetzt stachen die Jochbeine durch die trockene Pergamenthaut über ihren hohlen Wangen hervor, und die scharfe Hakennase musste im Laufe ihres Lebens gleich mehrmals gebrochen gewesen sein.

Das Schlimmste aber waren die Augen. So wenig, wie Andrej einen Lebensfunken in der alten Frau spürte, so wenig konnte er irgendetwas in den trüben, grauen Spiegeln ihrer Seele sehen. Die alte Zigeunerin war blind. »Hast du mich jetzt lange genug angestarrt, Andrej Delany?«, fragte die Greisin. Ihre Stimme war so dünn und trocken wie die Haut auf ihren Händen.

»Du ... kennst meinen Namen?«, fragte Andrej stockend. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Irgendetwas ging von dieser blinden Zigeunerin aus, das ihn frösteln ließ.

»Dein Freund da hat ihn mir verraten.« Eine dürre Klaue deutete auf Abu Dun. »Er hat mir auch verraten, dass du mir eine Menge Fragen stellen willst. Also hör auf, mich anzustarren. Ich weiß selbst, wie hässlich ich bin. Mit einhundertundacht Jahren muss man nicht mehr schön sein. Jetzt gieß mir einen Becher Wein ein, und dann frage, was du zu fragen hast.«

»Fragen?« Andrej warf Abu Dun einen verwirrten Blick zu, erntete aber nur ein weiteres, schadenfrohes Grinsen.

»Ich nehme doch an, dass du etwas von mir wissen willst«, bestätigte die Alte. »Warum sonst habt ihr so lange nach mir gesucht?«

»Nach dir?« Andrej sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Du bist...«

»Ich bin Anka«, sagte die Zigeunerin.

Die Puuri Dan hatte sich gesetzt - nicht auf den mit Kissen und Decken überladenen Diwan, wie Andrej erwartet hatte, sondern auf einen Stuhl, den Abu Dun auf ihr Geheiß hin herbeigeholt hatte - und ihre Bitte um Wein wiederholt. Erst, nachdem sie einen gewaltigen Schluck von dem starken Getränk zu sich genommen hatte, wandte sie sich wieder in Andrejs Richtung, und ein Lächeln erschien auf ihrem vom Alter gezeichneten Gesicht.

»Manchmal bedaure ich es, nicht sehen zu können«, sagte sie.

Andrej war froh, dass sie es nicht konnte. Er war nicht nur vollkommen überrascht, sondern noch immer auf eine Art beunruhigt und alarmiert, die sich nur schwer in Worte fassen ließ. Tief im Innern spürte er eine Furcht, die ebenso unerklärlich wie quälend war.

»Bitte entschuldige, Anka. Vermutlich waren wir einfach schon so lange auf der Suche, dass ich gar nicht mehr damit gerechnet habe, euch noch irgendwann zu finden«, sagte er schließlich.

»Beeindruckend«, spottete Anka.

»Was?«

»Dieser wohlfeile Satz«, antwortete Anka. »Kannst du auch mit mir sprechen wie mit einem normalen Menschen?«

»Er meint, dass wir ziemlich lange nach euch gesucht haben«, sprang Abu Dun ein. »Und bisher vergeblich.«

»Nun habt ihr mich ja gefunden.« Anka trank einen weiteren Schluck Wein. Ihre blinden Augen fixierten Andrej auf eine Art, die ihn schaudern ließ. Ein einzelner Tropfen Wein glitzerte auf ihren eingefallenen Lippen. Er sah aus wie Blut. »Ihr kommt aus dem Osten, nicht wahr?«