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»Er liebt dich«, sagte Andrej.

»Vielleicht mehr, als du ahnst«, antwortete Elena. »Vielleicht sogar mehr, als ich ahne. Aber er weiß, dass es eines Tages so weit kommen wird.«

Andrej schwieg. Elenas Worte hatten ihn zuerst überrascht, dann erschreckt und schließlich zornig gemacht, aber keines dieser Gefühle war wirklich berechtigt. Plötzlich schien alles, was er jemals über sie und Laurus gedacht hatte, keine Gültigkeit mehr zu besitzen. Wie konnte er für einen Mann, der eine Frau wie Elena besaß und wusste, dass sie ihm genommen werden würde, irgendetwas anderes empfinden als Mitleid?

Und Elena? Andrej spürte plötzlich einen bitteren, harten Kloß im Hals, der ihm den Atem abschnürte. Wie oft schon hatte er Geschichten wie diese gehört? Wie oft schon hatte er miterlebt, dass Menschen für ihren Glauben nicht nur ihr Leben, sondern unendlich viel mehr zu opfern bereit waren? Er hätte ihr sagen können, dass fast alle es bereut hatten, dass es die große Wichtigkeit, von der sie träumten, nicht gab.

Aber er schwieg. Auch das hatte er zu oft erlebt. Er hatte nicht die Macht, einen Menschen vor sich selbst zu retten, und er hatte nicht das Recht, Elena die einzige Lüge, die ihr half, das vor ihr liegende Schicksal zu akzeptieren, zu nehmen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, lachte Elena plötzlich leise auf. »Jetzt schau nicht so traurig. Noch ist es nicht soweit. Anka ist zäh, und ganz nebenbei auch viel zu stur, um uns allen den Gefallen zu tun, jetzt schon zu sterben. Und dass ich bis dahin nicht unberührbar bin, solltest du mittlerweile wissen.« Andrej stimmte in ihr Lachen ein, aber es war nicht echt, und als sich Elena erneut zum Gehen wandte, versuchte er nicht, sie zurückzuhalten.

Kaum war er allein, da brach die Müdigkeit wieder mit aller Macht über ihn herein, als hätte sie wie eine lauernde Spinne in ihrem Netz gewartet, bis Elena gegangen war. Seine Lider wurden schwer. Sein Kopf sank nach vorne, und er spürte, dass er im Begriff war, im Sitzen einzuschlafen. Doch statt dem fast übermächtigen Bedürfnis nachzugeben, straffte er sich, stand auf und verließ den Wagen.

Es war spät in der Nacht. Irgendwo am anderen Ende des Lagers brannte noch ein Feuer, eine flackernde rote Insel aus zurückweichender Helligkeit in der Schwärze einer Neumondnacht, und er konnte sogar noch Elenas Schritte hören, die sich rasch entfernten, darüber hinaus aber hatte sich absolute Stille über dem Lager ausgebreitet. Andrej blieb eine Weile reglos stehen, atmete die kühle, sauerstoffreiche Nachtluft und kämpfte die Müdigkeit nieder. Dann wandte er sich nach links und ging zu Abu Duns Zelt.

Obwohl er längst wusste, was er vorfinden würde, war er enttäuscht, als er die Plane zurückschlug und das Lager verlassen fand.

Also war Abu Dun diesmal wirklich gegangen.

Er hatte damit gerechnet, und doch hatte er sich bis zum letzten Moment an die widersinnige Hoffnung geklammert, der Nubier hätte sich eines Besseren besonnen und auf ihn gewartet. Vielleicht wäre er tatsächlich mit Abu Dun aufgebrochen, nicht aus Überzeugung, sondern einfach, weil die Dinge so waren, wie sie nun einmal waren, und weil ihm dieses letzte Gespräch mit Elena klargemacht hatte, dass es auch für sie keine Zukunft gab, auch nicht, wenn Abu Duns Irrsinnstat von heute Abend nie stattgefunden hätte.

Ja, vielleicht wäre er mit ihm gegangen. Aber Abu Dun hatte ihm die Entscheidung abgenommen. Traurig und von einer Mutlosigkeit erfüllt, die sich wie ein schleichendes Gift in seinem Herzen auszubreiten begann, ging er zu seinem Wagen zurück.

Es war Bason, der ihn am nächsten Morgen weckte; ziemlich unsanft und alles andere als in guter Stimmung. Ohne zu dem von flirrendem Sonnenlicht erfüllten Fenster sehen zu müssen, wusste Andrej, dass mindestens zwei, wenn nicht mehr Stunden verstrichen waren, seit die Nacht sich zurückgezogen hatte. Er hatte entsetzliche Kopfschmerzen, schlimm genug, um ihm die Tränen in die Augen zu treiben und Basons Gesicht hinter einem grauen Schleier auseinander fließen zu lassen, und im ersten Moment versuchte er gar nicht erst, sich zu bewegen, denn er wusste, dass er es nicht gekonnt hätte. Er fühlte sich unendlich schwach.

»Andreas, ich bitte dich!«, rief Bason, heftig an seiner Schulter rüttelnd. »Wach auf!«

Bason schrie fast, und in seiner Stimme war ein Ton, der Andrej sagte, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein müsse; und eigentlich hätte er wissen müssen, was. Aber es fiel ihm sonderbar schwer, sich an den vergangenen Abend zu erinnern, und noch schwerer, an die Nacht danach. Elena war zu ihm gekommen, das wusste er noch - aber mehr nicht.

»Andreas, es ist wirklich wichtig«, sagte Bason. »Was ist los mit dir? Bist du krank?«

Irgendwie raffte Andrej die letzte Energie zusammen, um den Kopf zu schütteln und sich halb aufzusetzen, aber danach musste er sekundenlang reglos sitzen bleiben, um neue Kraft zu sammeln. Er fühlte sich ausgelaugt, und obwohl er stundenlang geschlafen hatte, buchstäblich zum Umfallen müde.

»Was ist denn los?«, murmelte er. »Was willst du?«

»Laurus schickt mich«, antwortete Bason. »Dieser Schulz ist gekommen.«

Andrej hob langsam den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die tränenden Augen. »Schulz?«, fragte er verständnislos.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, antwortete Bason. Er wirkte verstört, beinahe ängstlich. »Aber irgendetwas muss passiert sein. Laurus ist sehr aufgeregt. Er sagt, du sollst sofort kommen.«

»Meinetwegen«, sagte Andrej. Er versuchte, aufzustehen, sank mit einem seufzenden Laut zurück und griff dankbar nach Basons Hand, die dieser ihm auch sogleich entgegenstreckte. Selbst mit Hilfe des jungen Sinti gelang es ihm kaum, auf die Füße zu kommen, und als er endlich stand, da wankte er vor Benommenheit und Schwäche. Seine Lippen waren aufgeplatzt und fühlten sich an, als hätte er seit einer Woche nichts mehr getrunken, und obwohl Basons Stimme keinerlei Zweifel daran aufkommen ließ, wie ernst seine Worte gemeint waren, war Andrej einen Moment lang versucht, sich einfach wieder auf das Bett sinken zu lassen und weiterzuschlafen.

»Bist du krank?«, fragte Bason noch einmal, und jetzt im Ton ehrlicher Besorgnis.

»Nein«, antwortete Andrej. »Ich fühle mich nicht gut, aber ich glaube, ich habe einfach zu wenig geschlafen. Und vielleicht zu viel getrunken.« Er machte einen Schritt. »Bring mich zu Laurus.«

»So?« Bason riss die Augen auf. Andrej sah ihn einen Moment lang verständnislos an, dann blickte er an sich herab und stellte erst jetzt fest, dass er nackt war.

»Nun denn«, sagte er. »Warte noch einen Augenblick.« Er begann mit umständlichen, noch immer schlaftrunkenen Bewegungen, seine Kleider zusammenzusuchen, schlüpfte in Hose und Stiefel, und hob schließlich das zerfetzte und blutdurchtränkte Hemd auf. Einen Moment lang betrachtete er die zerrissenen Überreste des Kleidungsstückes stirnrunzelnd, dann ließ er es mit einem Seufzen zu Boden fallen und sagte: »Das war mein letztes Hemd.«

»Ich gebe dir eins von mir«, sagte Bason, »aber jetzt komm, bitte. Es ist wirklich wichtig.« Er ging zur Tür und trat unruhig auf der Stelle, bis Andrej sich endlich erhob und ihm folgte.

Er hob schützend die Hand vor die Augen, als er in das grelle Sonnenlicht hinaustrat. Ein vorsichtiger Blick gen Himmel sagte ihm, dass er seine erste Schätzung korrigieren musste - die Sonne war aufgegangen, aber es konnte kaum länger als eine Stunde her sein, und im Lager herrschte etwas, das Andrej nur als stille Aufregung bezeichnen konnte; er hörte weder ein lautes Wort, noch sah er eine hektische Bewegung, aber er konnte die Anspannung spüren, die von den Menschen Besitz ergriffen hatte.