»Das werde ich tun«, versprach Andrej düster. »Verlass dich darauf.«
Ganz egal, was er noch vor Augenblicken gedacht hatte, und ganz egal, welche Folgen es haben mochte - für ihn, für Elena und Laurus und alle anderen hier - Andrej bewegte sich im Sturmschritt zurück zu Elenas und Laurus' Wagen, um sie auf der Stelle zur Rede zu stellen, ob Schulz und Flock nun dabei waren oder nicht.
Hinter seiner Stirn tobte ein Chaos aus unterschiedlichsten Gefühlen, und er war sich noch nicht einmal selbst darüber im Klaren, welcher Art sie waren. Da waren Zorn und Enttäuschung, aber auch eine maßlose, an Raserei grenzende Hoffnung, und noch vieles andere, Gefühle, die ihm zum Teil bis zu diesem Moment fremd gewesen waren, und die ihm zum Teil Angst vor sich selbst machten. Vielleicht war er am Ziel seiner Suche angelangt, vielleicht aber auch an einer Weggabelung, deren Existenz er sich bisher nicht hatte eingestehen wollen.
Und er hätte etwas wirklich Dummes und Folgenschweres getan, wäre in diesem Moment nicht die Tür des Wagens aufgegangen und Schulz, dicht gefolgt von Laurus und seinem bewaffneten Begleiter, herausgetreten.
»Es ist alles in Ordnung, Andreas«, sagte Laurus; eine Spur zu laut und zu beiläufig, wie Andrej fand. Er war sich nicht sicher, ob der Ausdruck in Laurus' Augen warnend, beruhigend oder fast schon flehend zu nennen war, aber er wollte ihm irgendetwas damit mitteilen.
Vielleicht wäre er dennoch weitergegangen, doch als Letzte und in einem gehörigen Abstand zu den anderen trat Elena aus dem Wagen, und was er in ihren Augen las, das war ein so tiefes Erschrecken und ein so verzweifeltes Flehen, dass er schlagartig begriff, dass sie nicht nur seine Absichten und seine Gedanken so mühelos erriet, als läse sie in einem aufgeschlagenen Buch, sondern auch, dass er im Begriff stand, einen vielleicht nicht wieder gutzumachenden Fehler zu begehen. Er hielt mitten im Schritt inne, starrte Elena für die Dauer eines endlosen, schweren Herzschlages an und zwang sich dann, den Blick von ihr loszureißen und sich wieder zu Laurus umzudrehen.
Das Oberhaupt der Sinti-Familie bedeutete ihm ungeduldig mit der linken Hand, näher zu kommen, und sah sich gleichzeitig nervös um. Seine Erleichterung, Pater Flock in einiger Entfernung und offensichtlich unversehrt zu entdecken, war nicht zu übersehen.
»Wo ist Euer Freund, Andreas?«, fragte er. Andrej sah sich überflüssigerweise nach Abu Dun um und hob die Schultern. »Vermutlich in seinem Zelt«, sagte er.
»Dann seid Ihr mir persönlich dafür verantwortlich, dass er auch dort bleibt«, sagte Schulz. »Oder zumindest hier im Lager.«
Andrej sah ihn verständnislos an, warf dann einen Hilfe suchenden Blick in Laurus' Gesicht und sah schließlich zu Elena hoch, die auf der mittleren Stufe der kurzen Holztreppe stehen geblieben war. Aber die Antwort, die er in ihren Augen zu lesen gehofft hatte, war nicht da.
»Aber ich dachte -«
»Bedankt Euch bei den guten Leuten hier«, sagte Schulz. »Sie haben mich davon überzeugt, dass Eure Schuld noch keineswegs erwiesen ist. Wenn Ihr mir Euer Ehrenwort gebt, dass Ihr und Euer heidnischer Freund nicht versuchen werdet, das Lager zu verlassen oder gar zu fliehen, so verzichte ich darauf, Euch mitzunehmen.« Er sprach langsam, fast schleppend, und auf seinen Zügen hatte sich ein Ausdruck leiser Verwunderung ausgebreitet, so, als wüsste er selbst nicht genau, was er da sagte, oder zumindest, warum. Dann fuhr er mit einer Kopfbewegung auf Laurus hin fort: »Sein Ehrenwort habe ich bereits. Wenn Ihr mir Eures gebt und es brecht, dann werde ich so reagieren, als hätte er es getan.«
»Selbstverständlich«, antwortete Andrej - obwohl ihn das, was Schulz sagte, vollkommen überraschte.
»Könnt Ihr auch für Euren Freund sprechen?«, fragte Schulz.
Noch vor wenigen Augenblicken hätte Andrej nicht nur mit einem überzeugten »Ja« geantwortet, sondern ohne zu zögern sein Leben darauf verwettet, dass Abu Dun dieses in seinem Namen gegebene Versprechen auch einhalten würde. Jetzt war er nicht mehr so sicher. Dennoch nickte er und sagte »Ja«. Aber sein Zögern schien gerade lange genug gewesen zu sein, um Schulz' Misstrauen zu wecken. Es dauerte lange, bis der grauhaarige Mann sich mit dieser Antwort zufrieden gab und seinerseits nickte. Er wirkte noch immer verwirrt, ja, fast verstört, und Andrej warf erneut einen fragenden Blick zu Elena hoch. Diesmal hielt sie ihm nicht Stand, sondern ging mit schnellen Schritten weiter, wandte sich nach links und entfernte sich so schnell, dass sie nahezu schon rannte.
»Pater Flock?«, rief Schulz laut.
Es verging nur ein Moment, bis der Geistliche zwischen den beiden Wagen auftauchte, in deren Schatten er Schutz vor der Sonnenglut gesucht hatte. Andrej erschrak, als er ihn sah. War Flock auch vorhin schon so bleich gewesen? Es war schwer, bei einem Mann in seinem Zustand zu beurteilen, ob sich sein Aussehen noch verschlimmert hatte oder nur gleich geblieben war, aber Andrej wäre nicht erstaunt gewesen, wäre Flock im nächsten Moment tot zusammengebrochen. Unendlich behutsam tastete er mit seinen Vampyrsinnen nach der Lebensflamme des jungen Predigers. Sie brannte noch, aber sie war schwach, und er wagte nicht, zu beurteilen, wie lange das noch so blieb.
»Ich bin hier«, sagte Flock. Er quälte sich ein Nicken in Schulz' Richtung ab und löste die Hand von der hölzernen Wand des Wagens, an der er sich bisher festgehalten hatte - mit dem Ergebnis, dass er wankte und zu stürzen drohte. Andrej wollte rasch hinzustürzen, aber Schulz' Begleiter war schneller, trat mit einem Schritt neben Flock und führte ihn rasch, aber sehr behutsam, zu einem der wartenden Pferde. Der schwer verletzte Mönch lehnte sich keuchend gegen den Sattel und rang einen Moment lang mit geschlossenen Augen nach Atem, bevor er die Schultern straffte und sich mit einer unendlich mühsam erscheinenden Bewegung noch einmal zu Schulz herum drehte.
»Ein weiser Entschluss«, sagte er. »Ich bin sicher, dass Ihr es nicht bereuen werdet, Schulz.«
Die Worte waren viel mehr an Andrej als an den grauhaarigen Mann aus der Stadt gerichtet, und sie waren auch viel mehr eine fast flehentliche Bitte als irgendetwas anderes. Andrej war fast sicher, dass Schulz das mindestens so deutlich verstehen musste wie er, aber der Grauhaarige enthielt sich auch diesmal jeden Kommentars. Nur der verstörte Ausdruck auf seinen Zügen schien noch an Intensität zuzunehmen.
»Verzeiht«, sagte Andrej rasch und an Schulz gewandt. »Aber Ihr solltet nicht zulassen, dass er den weiten Weg zurückreitet. Nicht in seinem Zustand, und nicht bei dieser Hitze.«
Schulz blickte ihn einen Moment lang an, als wäre Andrejs Sorge um Flocks Gesundheit das Allerletzte gewesen, womit er in diesem Moment rechnete. Dann aber nickte er.
»Habt Ihr einen Wagen?«
»Selbstverständlich«, sagte Laurus. »Ich lasse ihn sofort bereitstellen.«
Er eilte davon, um Schulz' Wunsch nachzukommen, und Andrej blieb allein und fast hilflos zurück. Alles in ihm schrie regelrecht danach, davonzustürmen und Elena zu suchen, aber zugleich war er auch noch immer so verwirrt und alarmiert wie selten zuvor in seinem Leben. Er wusste einfach nicht, was er tun sollte.
Schließlich spürte er Flocks Blick, drehte sich gezwungen ruhig herum und ging zu ihm hin. Der Krieger, der den Geistlichen zu seinem Pferd geführt hatte, folgte jeder seiner Bewegungen aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen, und Andrej musste nicht auf seine übermenschlichen Sinne zurückgreifen, um seine Feindseligkeit zu spüren. Er ignorierte den Mann jedoch und blieb einen Schritt vor Flock stehen.
»Ihr solltet hier nicht so in der Sonne stehen«, sagte er. »Warum wartet Ihr nicht irgendwo im Schatten? Laurus wird sicher in ein paar Augenblicken zurück sein.« Flock schüttelte den Kopf. Die Bewegung wirkte trotzig, wie die eines verstockten Kindes, das längst eingesehen hatte, dass es im Unrecht war und es nur nicht zugeben wollte. »Ihr müsst fort von hier, Andreas«, sagte er leise. »Irgendetwas Furchtbares wird geschehen. Ich spüre ein großes Unheil nahen. Fühlt Ihr es denn nicht auch?«