Andrej war im Moment selbst nicht sicher, was er überhaupt fühlte. Er reagierte nicht.
»Begleitet mich in die Stadt«, sagte Flock. »Ich weiß nicht, ob Ihr dort sicher seid, aber hier seid Ihr es nicht. Ihr müsst es nur sagen. Ein einziges Wort von mir genügt, und Schulz lässt Euch mitkommen. Und Euren Freund auch, wenn ihr seinetwegen nicht fort wollt.«
Andrej antwortete auch darauf nicht, aber er fragte sich, ob Flock nicht gehört hatte, was Schulz gerade zu ihm gesagt hatte. Schulz hatte weder leise gesprochen, noch war Flock besonders weit entfernt gewesen. Wenn er seine Worte gehört hatte, dann musste ihm klar sein, dass er mit seiner Bitte Andrej praktisch aufforderte, Laurus und die anderen Sinti dem fast sicheren Tod zu überlassen. Er weigerte sich, das zu glauben, und sah Flock nur schweigend und mit einem traurigen Kopfschütteln an.
Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis Laurus mit dem versprochenen Wagen zurückkam - dem gleichen Wagen, mit dem Flock schon einmal verletzt in die Stadt gebracht worden war. Laurus hatte die Ladefläche bereits mit strohgefüllten Säcken und Decken ausgepolstert, und Andrej half ihm, aus einigen davon ein Sonnendach zu improvisieren, das Flock vor der schlimmsten Hitze schützen sollte.
»Das ist Wahnsinn«, sagte er, während Laurus und er dem Geistlichen dabei halfen, sich auf die Ladefläche hinaufzuquälen. »Ihr solltet hier bleiben und erst am Abend zurückfahren. Wenn die Sonne untergegangen ist, lässt die Hitze rasch nach.« Flock hatte nicht die Kraft, sofort zu antworten. Erst, als er sich auf der Ladefläche des Wagens ausgestreckt und einige Augenblicke lang mit geschlossenen Augen und keuchend nach Luft gerungen hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Allmählich überschreiten Eure Worte die Grenze zwischen Sorge und Beleidigung, Andreas. Der Weg ist nicht so weit. Und ich habe wichtige Aufgaben in der Stadt zu erledigen.«
»Zu sterben?«, fragte Andrej.
Flock zwang sich zu einem rauen Lachen. »Wer weiß?«
»Lass ihn«, murmelte Laurus. Die Sorge in seiner Stimme kam Andrej so echt vor wie der Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich glaube, er beginnt zu fantasieren.« Er dachte einen Moment lang nach und wandte sich dann mit lauterer Stimme an Schulz, der ihnen zwar nachgekommen war, jedoch in drei oder vier Schritten Entfernung dastand und misstrauisch zu ihnen hoch sah. »Warum überredet Ihr diesen jungen Narren nicht, unsere Hilfe anzunehmen und bis Sonnenuntergang hier zu bleiben? Wir können ihn ebenso gut pflegen wie Ihr.«
»Nein«, sagte Schulz hart. »Ich habe ihn gewarnt. Es war seine Entscheidung, uns zu begleiten. Und es ist auch seine Entscheidung, ob er hier bleibt oder sein Leben riskiert, indem er mit uns zurück in die Stadt kommt.«
Andrej resignierte. Das Gespräch begann sich im Kreis zu drehen, und er glaubte Flock mittlerweile auch gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er nicht nachgeben würde. Das Unheimliche war, dass er das Gefühl hatte, dass Flock Recht hatte. Er konnte es nicht begründen. Es gab keinen Grund für diese Überzeugung, aber sie war da, und sie schien mit jedem Atemzug stärker zu werden.
Er überzeugte sich noch einmal sorgsam davon, dass Flock halbwegs bequem auf seinem Lager aus Kissen und Decken ruhte, dann sprang er vom Wagen und machte zwei Schritte zurück. Auf einen Wink von Schulz hin kletterte einer der beiden Bewaffneten auf den Kutschbock und griff nach den Zügeln, während der andere die Zügel der beiden jetzt überzähligen Reitpferde am hinteren Ende des Wagens befestigte. Schulz saß indessen auf, dirigierte sein Pferd so neben den Wagen, dass es zwischen ihm und Laurus und Andrej stand, und blickte sie beide abwechselnd von der Höhe des Pferderückens herab eindringlich an.
»Ihr habt gehört, was ich gesagt habe«, mahnte er. »Ihr könnt hier bleiben und Euch im Bereich Eures Lagers frei bewegen. Aber ich lasse jeden in Ketten legen, der versucht, es zu verlassen.«
»Ihr habt mein Ehrenwort«, sagte Laurus.
Was immer das wert sein mag, antwortete Schulz' Blick.
Vielleicht lag es einfach daran, dass er jetzt wieder im Sattel saß und damit nicht nur größer, sondern auch auf schwer in Worte zu fassende Weise Ehrfurcht gebietender aussah, dass Andrej den Eindruck hatte, er hätte schon wieder eine Menge von seinem früheren Selbstbewusstsein und seiner Ruhe zurückgewonnen. Dennoch war in seinen Augen noch immer ein leises, unstetes Flackern, ein Ausdruck von Verwirrung, der vergeblich nach einem Grund suchte.
Ohne ein Wort des Abschieds ließ Schulz sein Pferd antraben, und der Wagen und der zweite Krieger schlossen sich ihm an. Andrej wartete, bis sie das Lager zur Gänze durchquert und auf die Straße eingebogen waren, dann wollte er sich herumdrehen und gehen, aber Laurus hielt ihn mit einer fast schon groben Bewegung am Arm zurück.
»Wo willst du hin?«
»Ich muss mit Eurem Weib sprechen«, antwortete Andrej. Er versuchte, sich loszureißen, aber Laurus hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest. Andrej konnte sich nicht erinnern, jemals einen Ausdruck von solcher Entschlossenheit, aber auch nur noch mühsam unterdrücktem Zorn auf dem Gesicht des Sinti gesehen zu haben.
»Reden?«, fragte Laurus.
»Was sonst?«, gab Andrej kühl zurück. Er setzte dazu an, sich nun wirklich loszureißen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Laurus würde ihn nicht loslassen. Er würde ihn zwingen müssen, und das wollte er nicht. Noch nicht.
»Ich habe gewusst, dass mit dir das Unheil über uns kommt, Andreas«, sagte Laurus. »Schon im ersten Moment, als ich dich gesehen habe, habe ich es gespürt. Du bringst den Tod.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wovon Ihr redet«, erwiderte Andrej. Ihm lagen schärfere, herausforderndere Worte auf der Zunge, aber er spürte den brodelnden Zorn des Sinti, eine Wut, die nur nach einem, und sei es noch so kleinem, Vorwand suchte, um auszubrechen. Er wollte keinen Kampf mit diesem Mann. Fast sanft griff er nach Laurus' Hand, löste seine Finger von seinem Arm und trat einen Schritt zurück. »Ich will wirklich nur mit Elena reden«, sagte er. »Nicht mehr.«
Laurus wich seinerseits einen Schritt vor ihm zurück, hob die Hand, die Andrej gerade von seinem Arm gelöst hatte und betrachtete endlose Augenblicke lang seine immer noch halb geöffneten Finger. Ein Ausdruck von Schmerz und Bitterkeit erschien in seinen Augen, den Andrej im ersten Moment nicht verstand. Dann aber begriff er, dass er mehr getan hatte, als sich aus Laurus' Griff zu befreien. Er hatte ihn erniedrigt. Vielleicht mehr, als ihm das jetzt schon klar war. Aber jedes Wort der Entschuldigung hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich herum und ging.
Elena wartete in seinem Wagen auf ihn. Sie hatte die Läden vorgelegt, das Bett gerichtet und die Decke zurückgeschlagen, aber sie stand vollkommen angekleidet und reglos wie eine Statue daneben, und sie war gewiss nicht gekommen, um dasselbe mit ihm zu tun wie in den vergangenen beiden Nächten. Andrej war nicht einmal sicher, ob er ihr hätte widerstehen können. Nicht einmal jetzt. Ihr bloßer Anblick, wie sie so in den Schatten stand, selbst kaum mehr als ein Schemen mit glänzendem Haar und bleichem Gesicht, löste sie ein Verlangen in ihm aus, wie er es nie zuvor gespürt hatte. Nicht einmal damals, in jenem anderen, so unendlich weit zurückliegenden und doch unvergessenen Leben, in dem er seine erste und zugleich bisher wirklich einzige Liebe gefunden hatte.
»Schließ die Tür«, sagte sie.
Andrej gehorchte. Nach dem gleißenden Sonnenlicht draußen waren seine empfindlichen Augen fast blind, und doch war es ihm, als sehe er Elena in allen Einzelheiten noch immer vor sich. Das Bild ihres verlockenden, so unendlich weiblichen Körpers, hatte sich unauslöschlich in seine Gedanken eingegraben; wie mit Säure in seine Augen geätzt.