»Laurus wird das nicht gefallen«, sagte er. Seine eigenen Worte kamen ihm absurd vor. Laurus war im Moment gewiss ihr kleinstes Problem.
»Was? Dass ich hier bin?« Elena lachte leise, aber es klang eher bitter. »Er weiß es. Er wusste es auch gestern und am Tag davor.«
Andrej war nicht einmal wirklich überrascht. Er nickte nur. »Wer hat es dir gesagt?«, fragte Elena.
»Was? Dass du eine Hexe bist?« Die Worte taten ihm sofort wieder Leid. Er hätte sich eher die Hand abgehackt, als das zu tun, was Elena verletzte, und eher die Zunge abgebissen, als ihr Schmerz zuzufügen. Und dennoch, so wie vorhin bei Bason, gelang es ihm diesmal, die fast übermächtigen Gefühle zurückzudrängen. Elena hatte ihn verzaubert, ob tatsächlich mit Hexenkraft oder mit dem Zauber, der jeder normalen Frau zu Eigen war, spielte keine Rolle. Er wusste überhaupt nicht mehr, was noch eine Rolle spielte und was nicht. Alles, was er wusste, war, dass Pater Flock Recht gehabt hatte. Irgendetwas Entsetzliches würde passieren. Er konnte das Unheil spüren, wie die knisternde Spannung in der Luft vor einem schweren Sommergewitter, bevor sich die erste Wolke am Himmel zeigt. Er schluckte die Worte der Entschuldigung, die ihm über die Lippen kommen wollten, herunter und sah Elena nur herausfordernd an.
»Und das glaubst du wirklich?« Elena klang traurig. »Dass ich eine Hexe bin?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej in gequältem Tonfall. »Aber die Kaufleute in der Stadt ... all diese Menschen, denen du deinen Willen aufgezwungen hast...« Er suchte einen Moment nach Worten und räusperte sich, ehe er mit etwas klarerer, aber noch lange nicht fester Stimme fortfuhr: »Noch vor einer halben Stunde hätte uns Schulz am liebsten an Händen und Füßen gefesselt und über einem Pferderücken liegend in die Stadt mitgenommen. Jemand hat ihn überzeugt, es nicht zu tun. Warst du es?«
Elena nickte. Lange Zeit - in Wahrheit nur Augenblicke, die sich aber für sie beide zu einer Ewigkeit dehnten - schwieg sie. Dann sagte sie leise: »Du hast Recht, Andreas. Ich vermag tatsächlich manchen Menschen meinen Willen aufzuzwingen. Nicht allen und längst nicht in dem Ausmaß, in dem du vielleicht annimmst, aber oft ist es leicht, andere dazu zu bringen, das zu tun, was ich möchte.«
»So wie mich?«, fragte Andrej bitter.
Er konnte Elenas Gesicht in den Schatten, in denen sie stand, nicht sehen, aber er spürte, wie hart sie seine Worte trafen, und der Schmerz, den allein dieses Begreifen in ihm auslöste, war entsetzlich.
»Dich?« Andrej war nicht sicher, ob das Geräusch, das Elenas Worte begleitete, ein leises Lachen oder ein unterdrücktes Schluchzen war. »Nein. Ich habe mir niemals einen Mann so gefügig gemacht.«
»Du hättest es mir sagen müssen«, sagte Andrej.
»Was?«
»Du wusstest, warum ich hierher gekommen bin«, antwortete er gequält. »Du wusstest, wonach ich mein Leben lang gesucht habe. Warum hast du mir nicht gesagt, dass ihr so seid wie ich?«
»Aber das sind wir nicht«, antwortete Elena. Plötzlich erwachte sie aus ihrer Starre, kam auf ihn zu und blieb auf Armeslänge vor ihm wieder stehen, wie von einer unsichtbaren Hand zurückgerissen. Ihre Augen waren groß und erfüllt von Furcht. »Du glaubst, du hättest nach uns gesucht?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Es ist genau umgekehrt, Andreas. So lange ich lebe, haben wir nach einem Mann wie dir gesucht.«
Andrej war nicht ganz sicher, ob er verstand, was Elena meinte. Ob er es überhaupt verstehen wollte.
»Du bist nicht wie wir«, wiederholte Elena. Ihre Stimme begann zu zittern. Sonderbarerweise konnte er ihr Gesicht immer noch nicht richtig erkennen, obwohl sie jetzt ganz dicht vor ihm stand, aber irgendwie spürte er dennoch die Tränen, die ihre Augen füllten. »Oh Andreas, was war ich für eine Närrin, es dir nicht sofort gesagt zu haben. Du hast Recht, wenn du mich dafür hasst. Ich hatte Angst davor.«
»Angst?«
»Es ist nicht das erste Mal, dass ich glaubte, jemanden wie dich gefunden zu haben«, antwortete Elena. »Aber er war es nie. Ich bin drei anderen begegnet, und ich habe mich dreimal der Hoffnung hingegeben und bin dreimal an der Enttäuschung fast zerbrochen. Ich war nicht sicher, ob ich es ein weiteres Mal ertragen würde.« Und endlich gab sie sich einen Ruck, machte einen letzten Schritt und warf sich ihm mit solcher Kraft an die Brust, dass er wankte. Andrej konnte ihre heißen Tränen spüren, als sie das Gesicht gegen seine Wange presste. Es vergingen noch einige endlos quälende Sekunden, aber dann schloss er sie in die Arme und strich ihr zärtlich mit der Hand über das Haar. Auch seine Augen wurde heiß und begannen zu brennen. Er verstand den Grund für Elenas Tränen nicht, aber er wusste, dass sie echt waren, denn er konnte den unendlichen, grausamen Schmerz spüren, der Elena schüttelte. Bei dem Gedanken, dass er der Grund für diesen Schmerz sein könnte, schien auch in ihm etwas zu zerbrechen.
Wieder verging - diesmal wirklich - lange Zeit, bis Elena aufhörte, zu schluchzen, ihre Tränen versiegten und sie sich schließlich aus seiner Umarmung löste und einen Schritt zurücktrat. Sie straffte sich, drehte sich halb zur Seite und fuhr sich mit der linken Hand durch das Gesicht, um die Tränen fortzuwischen. »Du bist nicht wie wir«, sagte sie, zum wiederholten Male, zwar mit festerer Stimme, aber immer noch sehr leise. »Du bist alles, was wir je werden können, Andreas.«
»Du weißt nicht, was ich bin«, sagte er bitter.
»Ein Vampir«, antwortete Elena.
Andrej starrte sie an. Er sagte nichts. Sein Herz begann zu klopfen.
»Ich habe dir doch von den anderen erzählt, auf die wir gestoßen sind«, sagte Elena bitter. »Auch sie waren Vampyre. Unsterbliche wie du, die die Macht haben, die Leben anderer zu nehmen, um sich davon zu ernähren.«
»Es gibt keine Vampire«, sagte Andrej, fast schon automatisch, ganz einfach, weil er das immer sagte, wenn das Gespräch auf dieses Thema kam - was in letzter Zeit öfter der Fall war, als er wahrhaben wollte. »Das ist ein Ammenmärchen. Geschichten, die man erzählt, um Kinder zu erschrecken.«
Elena drehte sich langsam wieder zu ihm herum und sah ihm fest in die Augen. »Ich habe drei von ihnen getroffen«, sagte sie. »Es ist kein Ammenmärchen.«
»Die drei, von denen du berichtet hast. Was ist geschehen?«
»Ich habe sie getötet«, antwortete Elena. Ihre Stimme war ganz leise und scheinbar beherrscht; aber tief unter der Ebene des Hörbaren war noch etwas anderes darin, ein Schmerz, der zu groß war und zu tief ging, um ihn mit Worten zu beschreiben. »Deshalb habe ich mich dir nicht gleich offenbart, Andreas.«
»Weil du Angst vor mir hattest?«
»Weil ich nicht sicher war, ob ich dich nicht auch würde töten müssen«, antwortete Elena. »Weil ich verzweifelt gehofft habe, dass es diesmal anders sein könnte.«
»Und?«, fragte Andrej leise und bitter. »Ist es anders?«
»Du bist nicht wie sie«, antwortete Elena. Das war nicht wirklich eine Antwort auf seine Frage, und Andrej war sehr sicher, dass das auch kein Zufall war. Aber er schwieg, bis Elena von sich aus weiter sprach. »Es gibt nur sehr wenige von euch. Die meisten erliegen früher oder später der Verlockung der Macht über Leben und Tod, Andreas. Vielleicht alle.«
»Ich nicht«, widersprach er.
»Noch nicht«, sagte Elena. Sie schüttelte heftig den Kopf, als er widersprechen wollte. »Sag nicht, dass du es nicht auch schon gespürt hast. Du wärest kein Mensch, weil das Gift der Verlockung keine Wirkung auf dich hätte. Bisher hast du ihm vielleicht widerstanden, aber wirst du es immer können? In zehn Jahren? In hundert? Oder wortwörtlich auf ewig?«
Diesmal schien sie auf eine Antwort zu warten, und jetzt war es Andrej, der schwieg. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken, denn ihre Worte waren fast gleich mit denen, die Anka ihm gesagt hatte, nur, dass sie aus Elenas Mund eine ungleich stärkere Wirkung auf ihn hatten. Vielleicht, weil er wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Es war erst wenige Stunden her, da hätte er um ein Haar den einzigen Menschen getötet, der ihm auf der Welt noch geblieben war.