Als er herumfuhr, waren sie schon da. Das Mädchen und ihr älterer Bruder standen kaum auf Armeslänge von ihm entfernt und starrten ihn aus ihren bösen, seelenlosen Augen an, während die beiden jüngeren Knaben nach rechts und links auseinander gestrebt waren. Alle vier hielten kleine, scharfe Messer in der Hand, kaum mehr als Spielzeuge, die in den Händen solcher Kreaturen aber zu tödlichen Waffen werden konnten.
»Hab keine Angst«, sagte Elena rasch. »Sie werden dir nichts tun.«
Dem Ausdruck in den Augen des älteren Jungen nach zu schließen, ist das keineswegs die Wahrheit, dachte Andrej. Und auch das Mädchen starrte ihn nur kalt an. Ihr Blick war undeutbar, aber alles andere als freundlich.
»Ihr habt mich gehört«, sagte Elena jetzt mit lauter Stimme, in der eine Spur von Autorität lag, vielleicht sogar etwas wie eine Drohung. »Andreas gehört jetzt zu uns. Ihr werdet ihm kein Leid zufügen.«
Die Kinder schwiegen noch immer. Der Hass in den Augen des Jungen war unverändert groß, wie auch die Kälte in denen seiner Schwester nicht abnahm. Andrej fröstelte. Er hatte keine Angst. Er wusste, dass ihm im Moment keine Gefahr drohte, aber noch nie hatte er eine solche Bosheit und eine so unkontrollierte Lust am Zerstören und Töten, am Zufügen von Leid gespürt wie in Gegenwart dieser vier Kinder. Plötzlich musste er wieder an Flock denken, und er wusste nun, dass der Pfarrer Recht gehabt hatte. Das hier waren keine Kinder. Es waren nicht einmal Menschen. Es waren Dämonen.
Zitternd drehte er sich zu Elena herum. »Was bedeutet das? Was hast du mit diesen ...« Er suchte nach Worten und fand keine, und Elena, die seine Qual zu spüren schien, unterbrach ihn mit einer raschen Geste.
»Später«, sagte sie. »Ich erkläre dir alles.« Sie trat mit zwei schnellen Schritten an seine Seite und machte eine Bewegung, mit der sie die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich lenkte. Andrej hatte das Gefühl, wieder freier atmen zu können, als die Blicke der unheimlichen Kreaturen nicht mehr auf ihn gerichtet waren. »Ihr werdet weder ihm noch seinem Freund oder irgendjemandem hier etwas antun«, fuhr Elena fort. »Ihr habt schon viel zu viel Schaden angerichtet. Wir werden in wenigen Tagen weiter ziehen, und so lange werdet ihr euch verborgen halten. Habt ihr das verstanden?«
Sie schien nicht wirklich auf eine Antwort zu warten, denn schon nickte sie mit grimmigem Gesichtsausdruck und machte eine Geste tief in den Wald hinein. »Und nun geht. Ich komme vielleicht später noch einmal zu euch und erkläre euch alles.«
Es war fast unheimlich, wie lautlos die vier Gestalten ins Dickicht zurückwichen und mit seinen Schatten zu verschmelzen schienen. Doch wenige Augenblicke später war auch ihre unheimliche Präsenz nicht mehr zu spüren, und der Wald schien sich wieder zu verändern, von einem Ort des Bösen, der der Hölle näher war als der Welt der Menschen oder gar dem Himmel, wieder zu einem Stück der Realität.
»Was bedeutet das?«, fragte Andrej noch einmal.
Elena antwortete nicht gleich, sondern neigte den Kopf und schloss die Augen, als würde sie lauschen. Erst, als sie zu dem Ergebnis gekommen zu sein schien, dass sie tatsächlich allein waren, hob sie die Lider, antwortete aber auch jetzt nicht, sondern wies auf den Waldrand und ging los. Fast auf dem gleichen Weg, auf dem Flock und er vor zwei Tagen hier heraus getaumelt waren, verließen sie das kleine Waldstück und gingen wieder zum Lager zurück.
»Du hast mich gefragt, warum Laurus mich nicht mehr berührt hat«, sagte Elena. »Du hast den Grund gerade gesehen.«
Andrej blieb stehen und riss ungläubig die Augen auf. »Wie bitte?«
»Es sind seine Kinder«, sagte Elena leise. »Laurus ist ihr Vater. Und ich ihre Mutter.«
Andrej schnappte hörbar nach Luft. »Dann ist Laurus also auch -?«
»Nein«, fiel ihm Elena ins Wort. Fast erschrocken. »Laurus ist ein Sterblicher. Der einzige hier im Lager.«
»Wusste er, was du bist?«, fragte Andrej.
Elena nickte. »Ja. Er hat es immer gewusst.«
»Und es hat ihm nichts ausgemacht?«, fragte Andrej ungläubig.
Elena lachte ganz leise; jedenfalls glaubte Andrej im ersten Moment, dass es ein Lachen wäre, aber dann war er nicht mehr sicher. Vielleicht war es auch ein unterdrücktes Schluchzen oder ein leiser, verzweifelter Schrei. »Urteile nicht vorschnell, Andreas«, sagte sie. »Laurus war nicht immer so. Vor zwanzig Jahren war er dir ähnlicher, als du vielleicht glaubst. Er hat wohl geglaubt, dass die Liebe jedes noch so große Hindernis überwinden kann.«
»Kann sie es?«, fragte Andrej.
»Ich glaube, er ist daran zerbrochen«, sagte Elena. »Ich weiß, er ist ein bitterer, böser alter Mann geworden. Aber es ist nicht seine Schuld. Auch nicht meine. Vielleicht ist es einfach die Schuld des Lebens, das nicht gerecht ist.«
Eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander her, bis sie die Grenze des Lagers erreicht hatten. Andrej folgte Elena ganz instinktiv, doch plötzlich wurde ihm klar, dass sie wieder den Weg zu seinem Wagen eingeschlagen hatte, und er blieb stehen.
»Du solltest zu deinem Mann zurückgehen«, sagte er.
Elena sah ihn traurig an. »Warum?«
»Weil du zu ihm gehörst«, erwiderte Andrej. Wie gern hätte er etwas anderes gesagt. Es gab nichts, was er im Moment mehr wollte, als sie in die Arme zu schließen, die Wärme ihres Körpers auf seiner Haut zu spüren und die Süße ihrer Lippen, und doch - nach allem, was Elena ihm erzählt hatte, würde er das vielleicht nie wieder können. Noch einmal und viel intensiver, mit fast schmerzhaft körperlicher Wucht, begriff er, was der Ausdruck in Laurus' Augen vorhin bedeutet hatte. Er hatte ihn erniedrigt, aber gewiss nicht damit, dass er seine Hand gepackt und ohne Mühe von seinem Arm gelöst hatte.
»Warum musst du meinen Schmerz noch vergrößern, Andreas?«, fragte Elena. »Glaubst du denn, es macht mir nichts aus?«
»Was? Dass deine Kinder Ungeheuer sind? Dass es ihnen Freude bereitet, Menschen zu quälen und zu töten?«
»Es vergeht kein Augenblick an keinem Tag, an dem ich nicht daran denke«, antwortete Elena. Ihre Augen schimmerten feucht, und er sah, dass sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhielt. »Aber es sind meine Kinder, Andreas. Was soll ich tun?«
Andrej blieb ihr die Antwort auch auf diese Frage schuldig - und was hätte er sagen sollen? Schon bei der bloßen Erinnerung an die seelenlosen Kreaturen mit den toten Augen, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, aber er konnte - zumindest intellektuell - auch Elena verstehen. Vielleicht besser, als er es wollte. Besser, als er es wahrhaben wollte.
»Beantworte meine Frage«, verlangte Elena. Sie sprach leise, und dennoch schrie sie fast. »Was soll ich tun? Soll ich sie töten? Soll ich meine eigenen Kinder umbringen?«
»Und was glaubst du, wird aus ihnen?«, gab Andrej zurück, wobei er ihre Frage ganz bewusst nicht beantwortete. Das konnte er nicht. »Was wird aus ihnen werden, wenn deine Tochter vom Mädchen zur Frau und deine Söhne von Kindern zu Männern werden? Sie töten jetzt schon grundlos. Nur, weil es ihnen Freude bereitet.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Elena gequält. »Aber es kann nicht mehr lange dauern. Vielleicht schon dieses Jahr, vielleicht nächstes, aber dann wird sich erweisen, wozu sie werden. Vielleicht sterben sie. Vielleicht werden sie auch noch schlimmer, und dann werde ich sie töten müssen. Aber vielleicht werden sie auch so wie Bason und Rason.«
»Wie meinst du das?«
»Du magst die beiden, nicht wahr?«, fragte Elena. Sie lächelte flüchtig. »Jeder mag sie. Es gibt niemanden, der ihnen einen Wunsch abschlagen könnte, oder dem sie nicht auf Anhieb sympathisch wären. Das ist ihre Macht, Andreas. Das Geschenk, das sie vom Schicksal bekommen haben. So, wie ich in der Lage bin, anderen meinen Willen aufzuzwingen, so erwecken sie Gefühle von Freundschaft und Zuneigung, einfach, weil sie da sind. Ganz egal, bei wem. Vielleicht werden Laurus' Kinder ebenso - falls sie den Schritt vom Kind zum Erwachsenen überhaupt erleben.« Sie schüttelte den Kopf. »Mag das Schicksal über sie richten. Ich kann es nicht.«