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Was sollte er darauf sagen? Konnte er von einer Mutter verlangen, über ihr eigenes Fleisch und Blut zu richten? Kaum. »Und wie ... soll es weiter gehen?«, fragte er leise. »Wollt ihr weiter von Stadt zu Stadt ziehen, von Land zu Land, und immer hoffend, dass niemand euer Geheimnis entdeckt? Willst du weiter zusehen, wie sie unschuldige Menschen töten?«

»Natürlich nicht«, antwortete Elena, ohne ihn anzusehen und mit leiser, fast brechender Stimme. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn sie blickte zu Boden, aber er spürte, wie sich ihre Augen weiter mit Tränen füllten. »Es ist auch nicht so, wie du vielleicht glaubst. Sie sind keine ... Mörder. Es ist nicht so, dass sie überall Tod und Verwüstung hinterlassen, wo immer wir hinkommen.«

»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Andrej. Er fühlte sich schäbig bei diesen Worten, denn er wusste, wie weh sie Elena tun mussten, aber er konnte sie auch nicht zurückhalten.

»Ich weiß«, sagte Elena. »Es ist schlimmer geworden. Es wird schlimmer, mit jedem Tag, der vergeht, mit jeder Stadt in die wir kommen. Wir werden eine Entscheidung fällen müssen. Vielleicht habe ich deshalb so verzweifelt gehofft, dass du der bist, auf den wir seit so langer Zeit warten.«

»Ich werde diese Entscheidung nicht für euch treffen können«, sagte Andrej. Gleichzeitig war ihm klar, wie lächerlich diese Behauptung war. Er würde sie fällen, ganz gleich, was er tat. Selbst, wenn er nichts tat. Indem sie ihn in ihr Geheimnis eingeweiht hatte, lag die Verantwortung, ob er schwieg oder diese Höllenbrut auslöschte, nun ebenso auf seinen Schultern wie auf ihren. Vielleicht noch viel mehr.

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte er.

Als Elena den Kopf hob und ihn ansah, liefen Tränen über ihr Gesicht. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß ja noch nicht einmal, was ich tun soll.«

Und damit drehte sie sich herum und ging, um ihn allein zurück zu lassen. Allein mit sich und einem Schmerz, der vielleicht schlimmer war als alles, was er je zuvor erlebt hatte, aber auch einer Hoffnung, die mindestens so mächtig war wie dieser Schmerz.

Er hätte nicht sagen können, wie lange er im Halbdunkel seines Wagens dagesessen und ins Leere gestarrt hatte. Was in dieser Zeit hinter seiner Stirn vorgegangen war, woran er gedacht, was er sich gewünscht und was er verflucht hatte. Irgendwann neigte sich der Tag seinem Ende entgegen, und im gleichen Maße, in dem die Hitze nachließ, die mit immer größerem Erfolg die dünnen hölzernen Wände seines Wagens überrannte und um Einlass kämpfte, und das Licht nicht mehr so gleißend war, dass es seine empfindlichen Augen fast blind machte, erwachte das Zigeunerlager ringsum mehr und mehr zum Leben. Die ersten Feuer wurden entzündet, die ersten, noch zaghaften Takte von Musik wurden laut, und schließlich hörte er das erste Lachen und Lamentieren, das von der Ankunft neuer Gäste kündete, die sich offensichtlich weder von den Gerüchten über Hexerei und Flüche, noch von den Geschichten über Tote abschrecken ließen, die man in den Wäldern ringsum gefunden hatte. Es war nach Sonnenuntergang, als Andrej das Gefühl hatte, aus einem tiefen, aber alles andere als traumlosen Schlaf zu erwachen, und tatsächlich eine oder zwei Atemzüge brauchte, um sich überhaupt darüber im Klaren zu werden, wo er war, und warum er dort war, wo er war. Er erinnerte sich nicht einmal wirklich, dass er in seinen Wagen zurückgegangen war und sich mit untergeschlagenen Beinen auf das Bett gesetzt hatte. Irgendwann zwischen dem Moment, in dem Elena sich herumgedreht und davongegangen war und jetzt, war ihm die Zeit abhanden gekommen. Er hatte das Gefühl, aus einem endlosen, von grässlichen Träumen geplagten Schlaf zu erwachen, und ganz wie in den Tagen zuvor, fühlte er sich auch jetzt körperlich müde und erschöpft, als hätte er eine Schlacht geschlagen. Fast ohne sein Zutun fuhr seine rechte Hand über die zurückgeschlagene Decke, auf der er saß. Sie war warm, aber es war nur die Sonnenwärme, die sie gespeichert hatte, nicht die von Elenas Körper. Selbst jetzt, nach allem, was er erfahren hatte, konnte er fast an nichts anderes denken.

Einen Moment lang fragte er sich ganz ruhig, ob er von dieser Frau besessen war. Er kam zu keiner Antwort, und selbst wenn - sie hätte ihm nichts genutzt. Er war Elena verfallen, und es spielte keine Rolle, warum und auf welche Art.

Andrej stand auf, ging zum Fenster, und sah hinaus. Er konnte nur einen kleinen Teil des Lagers überblicken, und es war im Grunde nicht mehr als flackernde rote Lichtsplitter und die Schatten von Menschen, vielleicht auch anderen, düstereren Dingen, die sich hektisch hin und her bewegten und dabei dem Rhythmus einer anderen, unhörbaren und atonalen Musik zu folgen schienen, und wie um sich selbst zu verhöhnen, ertappte er sich dabei, in diesen Schatten nach dem Elenas zu suchen, in dem Durcheinander von Stimmen auf ihr helles Lachen zu lauschen.

Etwas wie eine dumpfe Verzweiflung begann sich in ihm breit zu machen. Andrej hatte keine große Erfahrung darin, verliebt zu sein. Vielleicht gar keine. Aber wenn das, was er nun spürte, wirklich Liebe war, dann erlaubte sich das Schicksal, Gott, oder wie immer man es nennen mochte, einen wirklich bösen Scherz mit ihm. Er war hierher gekommen, um etwas zu suchen, von dem er gar nicht genau wusste, was es war, und er hatte etwas gefunden, von dem er noch viel weniger wusste, ob er es haben wollte. Und von dem er trotzdem nicht mehr loskam.

Lange Zeit stand er einfach da, starrte in die Nacht und auf den roten Widerschein der Feuer hinaus, dann ging er langsam zu seinem Bett zurück, nahm das Schwert, das er daneben an die Wand gelehnt hatte, und band sich den mit Silber beschlagenen Waffengurt mit bewusst langsamen, überpräzisen Bewegungen um, Bewegungen die keinen anderen Sinn hatten als den, Zeit zu gewinnen und den Moment, in dem er den Wagen verlassen musste, noch um eine kurze, aber unendlich wertvolle Zeitspanne hinauszuzögern.

Schließlich aber verließ er den Wagen, wandte sich nach links und erreichte nach wenigen Augenblicken das kleine Zelt am äußeren Rand des Lagers, zu dem er auch in der vergangenen Nacht schon einmal vergebens gegangen war.

Diesmal war sein Bewohner anwesend.

Abu Dun war nicht im Zelt, aber er stand reglos, hoch aufgerichtet und in abwartender Haltung daneben, so, als hätte er gewusst, dass Andrej kam, und geduldig auf sein Erscheinen gewartet. Sein Gesicht, schon bei Tage eine schwarze Maske, war in der Nacht fast nicht zu erkennen, aber Andrej spürte die Ruhe, die der Nubier ausstrahlte, gleichzeitig aber auch etwas anderes; eine Bitterkeit, die es ihm fast unmöglich machte, weiterzugehen.

»Du hast lange gebraucht, Hexenmeister«, sagte Abu Dun.

»Du hast gewusst, dass ich komme.«

»Ich hab's gehofft«, erwiderte Abu Dun. Er machte ein Geräusch, das Andrej nicht deuten konnte, das sich aber trotzdem wie ein dünner, glühender Pfeil in seine Brust grub. »Du hast dich also entschieden.«

»Ja«, antwortete Andrej, dann rasch, fast, als wäre er erschrocken vor seinem eigenen Wort: »Nein. Ich ... ich weiß es nicht, Abu Dun. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«

»Und das aus deinem Mund!«, Abu Dun lachte rau. »Weißt du, wie lange ich mir gewünscht habe, das zu hören? Andrej, der Unfehlbare, der unsterbliche Hexenmeister, der zugibt, dass er nicht weiter weiß?«

»Mach es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist«, bat Andrej. »Verdammt, Abu Dun, ich -«

»Dann mach ich's dir leichter«, unterbrach ihn Abu Dun. »Du willst hier bleiben. Ich bin nicht überrascht, falls du das erwartet hast. Ich bin auch nicht enttäuscht. Ich wusste immer, dass es eines Tages so weit kommen würde. Ich wusste vom ersten Tag an, dass du auf der Suche bist. Und es gehört nun mal zu einer Suche, dass man eines Tages sein Ziel erreicht.«