Und eben das war es, was Andrej immer noch nicht wusste, weniger denn je zuvor. Hatte er sein Ziel wirklich erreicht? Nach allem, was er erlebt, und vor allem von Elena gehört hatte, sollte die Antwort eindeutig »Ja« lauten, aber war das die Wahrheit? Er hatte etwas gefunden, aber er konnte nicht sagen, ob es das war, was er hatte finden wollen.
»Ich hab rührselige Abschiedsszenen noch nie gemocht«, fuhr Abu Dun fort, als er keine Antwort bekam. »Wenn du gekommen bist, um Lebewohl zu sagen, dann tu es und dann geh deiner Wege.«
»Abu Dun -«, begann Andrej.
»Ich jedenfalls werde genau das tun«, fuhr der Nubier unbeeindruckt fort. »Ich wäre schon fort, aber ich habe auf dich gewartet. Nach so vielen Jahren wäre es undankbar, einfach so zu verschwinden.«
Andrej schwieg auch jetzt. Es war nicht das erste Mal in den vergangen Tagen, dass Abu Dun ihm drohte, allein fortzugehen, aber diesmal, so erkannte er, meinte der Nubier es ernst. Er wusste mit unerschütterlicher Sicherheit, dass er Abu Dun nie wieder sehen würde, wenn sich ihre Wege jetzt trennten.
»Ich hoffe, du wirst hier glücklich, Andrej«, sagte Abu Dun. Jede Spur von Häme oder Spott war aus seiner Stimme verschwunden. Er meinte, was er sagte, und genau deshalb taten seine Worte auch so weh.
»Ich nehme an, es macht dir nichts aus, wenn ich mir von unserem gemeinsamen Besitz nehme, was ich brauche«, sagte Abu Dun plötzlich lauter. Als ob Andrej das in diesem Moment interessierte, oder ob es irgendeine Bedeutung hätte. Doch er vermutete, dass Abu Dun womöglich einfach nur das Thema hatte wechseln wollen.
»Wo willst du hin?«, fragte Andrej.
Abu Dun hob die Schultern. »Die Welt ist groß. Irgendwo wird sich schon eine Beschäftigung für einen ehemaligen Sklavenhändler und Schmuggler finden. Die Zeiten sind zwar schlecht, aber man sagt auch, dass schlechte Zeiten gut für schlechte Menschen sind, hab ich Recht?«
Andrej lachte nicht. Man konnte viel über Abu Dun sagen, aber eines war er gewiss nicht: Ein schlechter Mensch. Er war ein Mörder, ein Sklavenhändler, Schmuggler, Dieb und Räuber, aber tief unter dem Gebirge von Untaten, das er im Laufe eines langen Lebens angehäuft hatte, schlug das Herz eines aufrechten Mannes - trotz allem.
»Du könntest noch eine Weile hier bleiben«, sagte er. »Ich bin sicher, dass Laurus nichts dagegen hätte.«
Abu Dun lachte. Es klang böse. »Und wenn, würde es ihm nichts nutzen, nehme ich an«, sagte er, schüttelte aber zugleich auch den Kopf. »Nein, nein, lass gut sein, Andrej. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, aber im Moment ziehe ich es vor, zu gehen. Selbst ich merke irgendwann, wenn ich nicht erwünscht bin. Ich denke, es ist besser zu gehen, bevor man es mir sagt.«
»Aber das ist doch nicht die Wahrheit«, wollte Andrej schreien, aber in Wahrheit flüsterte er nur, obwohl die Worte in seinem Kopf gellten.
»Was ist schon Wahrheit?«, sagte Abu Dun. Er löste sich endlich aus den Schatten, in denen er dagestanden und Andrej angestarrt hatte, und kam ihm ganz nahe. »Es war eine schöne Zeit mit dir, Andrej«, sagte er. »Du hast mir eine Menge genommen, aber du hast mehr dafür gegeben, als ich verloren habe. Dafür danke ich dir. Und ich wünsche dir von Herzen, dass du dein Glück findest. Oder wenigstens deinen Seelenfrieden.« Er lachte leise. »Und solltest du noch einmal in meine Heimat kommen und ein paar Sarazenenschädel einschlagen, dann achte darauf, dass sie nicht schwarz sind, denn einer davon könnte der meine sein. Inschallah.«
Erst später, viel später, wie es Andrej erschien, wurde ihm klar, dass der Nubier sich einfach abgewandt hatte und in Richtung der Koppel davon gegangen war, ohne noch einmal in sein Zelt zurück zu kehren und sein Gepäck zu holen. Und erst da begriff er, dass Abu Dun schon lange zum Aufbruch bereit gewesen war und nur auf ihn gewartet hatte, um ihm diese wenigen, aber unendlich kostbaren Worte zu sagen.
Und dann, als es viel zu spät war, begriff er, dass es durchaus etwas auf der Welt gab, das ebenso schmerzte wie die Gewissheit, sein Ziel verloren zu haben. Abgesehen von dem Gefühl, von dem er noch immer nicht wusste, ob es nun Liebe war oder etwas, das er nur dafür hielt, vermochte es einem Menschen das Herz zu brechen, einen Freund zu verlieren.
Aber vielleicht war auch dies nur eine der vielen Lektionen, die man erst im Laufe eines Lebens lernte: dass man es immer erst dann wirklich begriff, wenn es längst zu spät war.
Von einer inneren Unruhe getrieben, deren Gründe er nicht zu erforschen wagte, ging Andrej nicht zurück zu seinem Wagen - obwohl da aller Logik und innerem Aufruhr zum Trotz noch eine dünne Stimme war, die ihm sagte, dass Elena möglicherweise gerade in diesem Moment dort auf ihn wartete -, sondern wandte sich in die entgegen gesetzte Richtung, dem hell erleuchteten Zentrum des Lagers zu.
Er wusste selbst nicht, warum. Die laute Musik, das Lachen, all die fröhlichen Menschen dort widerten ihn an, denn in diesem Moment erschien ihm die Atmosphäre, die über diesem Platz lag, nicht als Ausdruck von Lebenslust, sondern von purem Hohn. So bewegte er sich, fast gegen seinen Willen, genau dorthin, wo er im Moment eigentlich am wenigsten sein wollte, und schon bald fand er sich inmitten einer ausgelassenen, fröhlichen Menschenmenge wieder und vor der Bühne, auf der Bason oder sein Bruder - im Moment war es Andrej wirklich nicht mehr möglich, die beiden zu unterscheiden - gerade ein Kunststück mit wirbelnden Messern und brennenden Keulen aufführten. Eine Jonglierübung, die gefährlicher aussah, als sie war, die zum größten Teil bereits angetrunkene Zuschauermenge aber in ihren Bann schlug.
Während er so dastand und der Darbietung zusah, das falsche Lachen hörte und in tückische Augen blickte, die weniger die Fertigkeit des Künstlers würdigten als vielmehr darauf warteten, dass dieser daneben griff und einer der Dolche seine Hand durchbohrte oder eine brennende Fackel sein Gesicht versengte, fragte sich Andrej, ob das hier wirklich die Welt war, in der er leben konnte. Er war weitgehend frei von Vorurteilen und hatte weder etwas gegen Gaukler noch gegen das fahrende Volk, aber er war oft genug bei Menschen wie diesen gewesen, um längst begriffen zu haben, dass er ein solches Leben nicht führen wollte. Und obwohl auch er schon so lange unterwegs war, dass er gar nicht mehr wusste, was das Wort Heimat wirklich bedeutete, war er doch stets auf der Suche danach gewesen. Diese Menschen hier waren Reisende, die ihr Ziel längst gefunden hatten, denn ihr Ziel war die Reise. Ganz plötzlich und mit unerschütterlicher Sicherheit begriff er, dass er dieses Leben auf Dauer weder führen wollte noch konnte.
Aber was bedeutete schon auf Dauer für einen Unsterblichen?
»Du hast dich also entschieden«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Andrej drehte sich herum und sah ohne Überraschung in Laurus' Gesicht. Erst im Nachhinein wurde ihm klar, daß der Grauhaarige schon eine ganze Weile hinter ihm gestanden und ihn angeblickt hatte. »Ja«, sagte er.
In Laurus' Augen erschien eine Bitterkeit, die Andrej die Kehle zuschnürte. »Und was willst du tun?«
»Nichts«, sagte Andrej. »Da ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Laurus. Ich erhebe weder Anspruch auf deine Position, noch auf dein Weib. Ich werde einfach warten.«
Die Brutalität dieser Aussage wurde ihm erst klar, als er die Reaktion darauf in Laurus' Blick las. Dann jedoch mit umso größerer Wucht. Für einen Moment konnte er kaum glauben, dass es seine eigene Stimme gewesen war, die diese Worte ausgesprochen hatte. Von allem, was er dem Sterblichen hätte sagen können, war dies vielleicht das Schlimmste und zugleich die größte Erniedrigung, die ein Mann einem anderen zufügen konnte. Er versuchte sich vorzustellen, wie Laurus sich in diesem Moment fühlen musste, aber seine Fantasie reichte dazu nicht aus. Laurus war ein Mann, für den jeder Tag, der verging, unwiederbringlich verloren war, und der mit jedem Atemzug, den er tat, dem Tod ein Stück näher kam. Ein Mensch, der alterte. Wie sehr musste es ihn schmerzen, neben einer Frau zu leben, für die die Zeit stehen geblieben war, die heute noch so schön und jugendlich aussah wie vor zwanzig Jahren? Und welch ungleich größere Schmach musste es bedeuten, den Nebenbuhler Tag für Tag vor Augen zu haben, einen Mann, dem die Zeit ebenso wenig anhaben konnte wie seinem Weib und der nichts weiter tun musste, als einfach nur zu warten.