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Wieder drohte er für einen kurzen Moment, endgültig ins Nichts hinüberzugleiten, spürte die Berührung jener unsichtbaren und auch für ihn endgültigen Grenze, und die Verlockung der ewigen Stille und des allumfassenden Vergessens und Friedens auf der anderen Seite. Aber da war noch irgendetwas, das ihn zurückhielt, ein winziger Funke, tief unter der fast erloschenen Glut seiner Lebensflamme, die sich einfach weigerte, auszugehen, vielleicht das Wissen, dass es da noch etwas gab, was erledigt werden musste, etwas, das wichtiger war als sein eigenes Leben.

Die Stimmen und Geräusche begannen erneut zu verschwimmen, und auch die Schmerzen, die ihm zugefügt wurden, verloren an Bedeutung. Sein geschundener Rücken blutete noch immer, und die gebrochenen Rippen bohrten sich wie kleine, spitze Messer tiefer in seine Brust. Aber Andrej war nur noch in der Lage, zu registrieren, nicht mehr, irgendetwas dagegen zu tun oder sich gar zu wehren.

Er spürte, wie er eine kurze Treppe hinaufgeschleift und dann grob auf einen Stuhl gestoßen wurde. Sein Kopf und sein Oberkörper sanken nach vorne und schlugen unsanft auf der harten Platte eines Tisches auf, er hörte Schritte, dann andere, scharrende Geräusche, ein Poltern, und schließlich eine dritte Stimme, die er zu seinem Erstaunen als die von Laurus identifizierte.

»Es ist genug. Ihr könnt gehen.«

»Aber -«, protestierte Bason.

»Wartet draußen!«, unterbrach ihn Laurus. »Habt ihr nicht verstanden?«

Wieder dieses Scharren, ein unmutiges Murren und dann das dumpfe Zuschlagen einer Tür. Für eine Weile geschah nichts, dann ergriff eine Hand brutal sein Haar und riss seinen Kopf nach oben und in den Nacken. »Siehst du, Unsterblicher«, sagte Laurus' Stimme, »so schnell können sich die Dinge ändern. Wo ist jetzt deine Überheblichkeit?«

Andrej hätte nicht einmal geantwortet, wenn er es gekonnt hätte. Er verstand nicht, was hier vorging. Er war selbst zu schwach, um wirklich zu erschrecken, allenfalls, dass er eine sachte Verwunderung verspürte.

Mit aller Kraft versuchte er, zumindest die Augen zu öffnen, doch nicht einmal das gelang ihm. Seine Lider schienen Zentner zu wiegen, und auch, wenn er spürte, dass der winzige Funke in ihm ein wenig heller zu glühen begann, so würde es doch noch lange dauern, vielleicht Stunden, bis er auch nur die Kraft aufgebracht hätte, den Kopf zu heben.

Sein Schweigen schien Laurus noch wütender zu machen, denn er schlug ihm zwei-, drei-, viermal hintereinander mit der flachen Hand und mit großer Kraft ins Gesicht, sodass Andrejs Kopf hin und her rollte und er vom Stuhl gefallen wäre, hätte Laurus ihn nicht zugleich auch festgehalten. »Ich könnte jetzt so großmütig sein wie du und sagen, dass ich nichts tun und einfach warten werde«, fuhr Laurus mit zitternder Stimme fort. »Aber ich bin ja nur ein sterblicher Mensch, dessen Tage begrenzt sind, weißt du? Ich kann mir so viel Geduld nicht leisten.«

Diesmal schlug er mit der Faust ins Gesicht. Andrej spürte, wie seine Lippen aufplatzten und salziges Blut über sein Kinn lief. Er war immer noch unfähig, darauf zu reagieren.

»Du spielt gern den harten Mann, wie?«, höhnte Laurus. »Nun, wollen wir sehen, wie hart du wirklich bist?« Er schlug ihn noch einmal, und noch sehr viel härter. Diesmal lief das Blut nicht nur an seinem Kinn herab, sondern füllte auch seinen Mund und rann salzig und warm in seine Kehle.

Und irgendetwas tief in ihm reagierte auf den bitteren Kupfergeschmack.

Was immer Elena ihm auch genommen hatte, sie war nicht bis auf den tiefsten Grund seiner Seele gekommen. Sein düsterstes Geheimnis, das Gefängnis, in dem die Bestie lauerte, war noch da, die Tür zu diesem sichersten aller Verliese unberührt, vielleicht unentdeckt.

»Ich hätte Lust, dich zu Tode zu prügeln«, sagte Laurus und schlug ein drittes Mal zu, um seine Worte unverzüglich zu beweisen. »Aber ich glaube, das würde Anka nicht gefallen.« Er lachte böse. »Vielleicht tue ich es ja doch gleich und fasse mich in Geduld. Ja, das werde ich tun. Ich werde einfach dastehen und zusehen, was Anka mit dir tut, und wer weiß, vielleicht ist es das erste Mal, dass ich den Anblick wirklich genieße.«

»Das reicht«, sagte eine scharfe Stimme. »Er kann dich nicht hören, du Narr. Und wenn er es könnte, dann könnte er nicht antworten.«

Laurus antwortete nicht darauf, aber Andrej konnte hören, wie er scharf die Luft einsog. Seine Hand ließ Andrejs Haar los, sodass er wieder nach vorne sank und sein Gesicht erneut und schmerzlich hart auf die Tischplatte prallte. Und das warme Blut lief weiter seine Kehle hinab. Er konnte jeden Fingerbreit des Weges spüren, den es nahm, wie eine brennende Spur, die es in sein Fleisch brannte.

»Lass das, du Dummkopf«, sagte Ankas Stimme. Sie war leise und zitterte, so wie immer, und doch war etwas darin, das Andrej erschauern ließ. »Richte ihn auf.« Er wurde erneut grob in die Höhe gezerrt, dann trat Laurus hinter ihn und legte ihm beide Hände auf die Schultern, damit er nicht zur Seite kippte. Er konnte hören, wie Anka mit schlurfenden Schritten näher kam und sich einen Stuhl heranzog, um sich an der gegenüberliegenden Seite des Tisches niederzulassen. Aus der winzigen Glut in ihm war jetzt ein Flämmchen geworden. Er war noch weit davon entfernt, etwas zu spüren, das man als Kraft bezeichnen konnte, aber seine Sinne erwachten nach und nach. Er konnte Laurus' scharfen Schweiß hinter sich riechen, aber auch den säuerlichen Geruch der hundertzwanzigjährigen Frau auf der anderen Seite des Tisches. Und da war noch etwas. Das Blut rann weiter seine Kehle hinab. Die brennende Verlockung, die es transportierte, hatte die Tür des Gefängnisses erreicht und begann, sich hineinzufressen wie Säure in altes, längst morsch gewordenes Holz.

»Du bist also noch am Leben«, sagte Anka. Er konnte hören, wie sie den Kopf schüttelte. »Das ist erstaunlich. Ich habe noch keinen getroffen, der die dritte Nacht mit Elena überlebt hätte. Wer bist du Andrej Delany? Was hast du uns verschwiegen?«

Die Bestie auf der anderen Seite der Tür zerrte immer wilder an ihren Ketten.

Etwas raschelte. Ankas säuerlicher Greisinnen-Geruch wurde intensiver, dann berührte eine pergament-trockene Hand seine Wange. Dürre Spinnenfinger tasteten über sein Gesicht, berührten seine Augen, seine Stirn, und er spürte, wie etwas in ihn eindrang und mit brutaler Kraft nach dem flackernden Lebensfunken in ihm griff. Doch statt ihn endgültig zu löschen, fachte sie ihn zu höherer Glut an. Nicht viel. Nicht annähernd genug, dass er hätte auf den Gedanken kommen können, sich zur Wehr zu setzen, aber doch genug, ihm zumindest die Kontrolle über seinen Körper zurückzugeben. Mühsam öffnete er die Augen und blickte in Ankas Gesicht. Obwohl sie blind war, musste sie es irgendwie registriert haben, denn ihr faltenzerfurchtes Antlitz verzog sich zur höhnischen Grimasse eines Lächelns. »Ja, wir können auch Kraft geben, Andrej«, sagte sie. »Das hast du nicht gewusst, nicht wahr? Woher auch? Nehmen ist ja so viel seliger denn Geben.«

Er versuchte, sich aufzurichten und ganz instinktiv Laurus' Hände abzuschütteln, die immer noch schwer auf seinen Schultern lagen, aber dazu reichte seine Kraft nicht aus. »Was willst du von mir?«, murmelte er.

»Dein Leben, was sonst?«, fragte Anka. Sie klang ehrlich verwundert. »Wenigstens das, was noch übrig ist. Aber du interessierst mich auch. Du bist ein erstaunlicher Mann, Andrej. Die Wenigsten überleben die erste Nacht mit meiner Tochter. Nur ganz wenige die zweite. Eine dritte hat noch keiner geschafft.« Sie schüttelte den Kopf. »Erstaunlich.«

»Deine Tochter?«

Anka lachte meckernd. »Oh, hat sie vergessen, dir das zu erzählen? Ja, ja, Elena ist mein Kind. Ich war nicht einmal sechzehn, als ich sie geboren habe.« Wieder lachte sie, und diesmal lag ein hämischer Ton darin, der Andrej einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. »Ich hatte Zeit genug, mich daran zu gewöhnen, aber es gibt Momente, in denen ich wirklich bedaure, nichts sehen zu können. Jetzt zum Beispiel. Ich hätte zu gern dein Gesicht gesehen, als du dir gerade ausgerechnet hast, dass du mit einer Hundertjährigen im Bett warst.«