»Hat man dir nie gesagt, dass wir das können?«, fragte Anka hämisch. »Es ist so leicht. Man muss nur seine Gier beherrschen, weißt du? Du darfst nicht alles von einer Seele nehmen, und du musst ihr etwas von dir geben. Die meisten sterben daran, aber einige schaffen es doch. Mach dir keine Sorgen um deinen großen Freund. Er ist stark. Er wird es überleben, und er wird ein würdiger Nachfolger für dich werden.« Sie kicherte. »Wenigstens so lange er noch lebt.«
»Hör auf«, sagte Andrej mit zitternder Stimme. »Hör auf!«
Anka kicherte erneut, leise und meckernd, und so böse, dass es Andrejs ganzer Willenskraft bedurfte, nicht die Hand um ihren dürren Hals zu schließen und ihn zu zerquetschen. »Und was willst du tun, wenn nicht?«, fragte sie. »Mich töten? Nur zu. Damit erweist du mir nur einen Gefallen. Dieser Körper hat längst ausgedient. Töte mich, und wir werden beide ewig leben.«
Andrej ließ ihre Kehle los, richtete sich halb auf, und schlug ihr dann die geballte Faust mit aller Gewalt gegen die Schläfe. Die alte Frau starb auf der Stelle.
Und dann explodierte der Raum unter einer Flut brodelnder, schwarzer Lebensenergie, die aus ihr hervorbrach wie eine Flutwelle aus einem zerbrochenen Damm; eine Woge von Kraft, wie Andrej sie noch nie gespürt hatte, und vielleicht nie wieder spüren sollte, und die danach schrie, von ihm verschlungen und seiner eigenen Lebenskraft hinzugefügt zu werden.
Aber er tat es nicht.
Der Vampyr in ihm schrie auf, wütend, in schierer Raserei Vor Gier und Enttäuschung, diese unendlich verlockende Beute nicht schlagen zu können, aber irgendwie gelang es Andrej, ihn zurückzuhalten. Vielleicht war es nicht einmal seine eigene Kraft. Vielleicht war es etwas, das noch stärker war als seine dunkle Seite, das pure Wissen, dass es sein sicheres Ende bedeuten musste, wenn er versuchte, aus der Quelle des reinen Bösen zu trinken. Andrej krümmte sich, schlug die Fäuste vor das Gesicht und stürzte schließlich rücklings zu Boden. Er hörte nicht, dass er schrie, und er spürte nicht, dass er sich wie in Krämpfen auf dem Boden wand, während er verzweifelt versuchte, der immer stärker werdenden Gier zu widerstehen. Das Toben der Bestie wurde zur Agonie, hatte längst die Grenzen dessen, was vorstellbar war, überschritten, und drohte ihn nun seinerseits zu verzehren, und er spürte, dass er den Kampf verlieren würde ...
Und dann war es vorbei.
Die Raserei hörte auf, und das Ungeheuer in ihm zog sich wieder in sein Versteck am Grunde seiner Seele zurück, nicht geschlagen, sondern zutiefst verstört und erschrocken. Andrej sank erschöpft zurück, schloss für einen Moment die Augen und wartete darauf, dass sich sein rasender Herzschlag beruhigte und sein Atem nicht mehr keuchend und unregelmäßig ging. Er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet, und als er sich aufrichtete und sich zu Ankas Lager herumdrehte, zitterten seine Hände so stark, dass er sie gegen den Leib pressen musste.
Die alte Zigeunerin war tot. Aber nicht nur ihr Körper war gestorben. Da hing noch etwas wie ein leiser Hauch einer uralten, aber allmählich in Vergessenheit geratenen Macht in der Luft, und für einen ganz kurzen Moment glaubte Andrej einen unendlich leisen, aber auch unendlich gequälten, enttäuschten Aufschrei zu hören, der jedoch verklang, bevor er sicher sein konnte. Dann war es endgültig vorbei. Das Ding, das so viele Seelen verschlungen und zur puren Verhöhnung dessen gemacht hatte, wozu sie einst erschaffen worden waren, war fort. Vielleicht hinüber geglitten in eine andere Dimension des Seins, die Andrejs Verständnis ebenso verborgen blieb wie allen anderen Menschen, vielleicht aber auch endgültig erloschen und für alle Zeiten zerstört. Er hoffte es.
Andrej wartete, bis das Zittern seiner Hände ganz aufgehört hatte, dann drehte er sich herum und ging langsam zu Laurus' Leichnam hinüber. Erst jetzt spürte er, wie müde und ausgelaugt er immer noch war. Die Kraft, die ihn befähigt hatte, Laurus zu töten und Anka zu widerstehen, war nicht seine eigene gewesen, sondern nur geliehen, und ihr eigentlicher Besitzer hatte den allergrößten Teil davon wieder mit sich zurück in sein finsteres Verlies genommen. Obwohl er wusste, wie sinnlos es war, ließ er sich neben Laurus auf die Knie sinken und suchte in dem reglosen Körper nach einem Rest der Kraft, die ihn bisher von einem unbeseelten Stück Fleisch zu einem Menschen gemacht hatte. Aber da war nichts mehr. Wenn er eine Seele nahm, dann musste es im Augenblick des Todes geschehen, wortwörtlich der letzte Atemzug, mit dem der Lebensodem ausgehaucht wurde.
Immerhin hatte Laurus ihm ein letztes Geschenk dagelassen: Er trug Andrejs Schwertgurt mitsamt der Waffe an der Hüfte. Andrej nahm sein Eigentum wieder an sich, richtete sich auf und legte den silberbeschlagenen Gürtel an, während er nachdenklich auf den Leichnam des grauhaarigen Sinti vor sich hinabblickte. Er sollte Zorn empfinden oder zumindest eine grimmige Befriedigung, aber alles, was er spürte, war ein vages Gefühl von Mitleid mit diesem fehlgeleiteten Sterblichen, der vielleicht wirklich geglaubt hatte, er könne ein Stück der Ewigkeit erringen, wenn er sich mit dem Teufel einließe. Andrej konnte ihn nicht verurteilen. Nicht wirklich. Es stand ihm nicht zu - und wie auch? Selbst er war Elenas Zauber erlegen, und er wirkte jetzt noch auf ihn. So wie jetzt, als er wusste, dass sie von Anfang an nur mit ihm gespielt und seine Sinne verwirrt hatte, war es ihm unmöglich, sie zu hassen. Andrej sah an sich herab, strich glättend über seine Kleider, und schleifte Laurus' Leiche dann ein Stück zur Seite, damit man sie nicht gleich sah, wenn er die Tür öffnete. Die Hand in einer nachlässigen Geste auf dem Schwertknauf liegend und mit festen Schritten (von denen er wenigstens hoffte, dass sie seine Schwäche verbargen) entriegelte er die Tür und trat in die Naht hinaus.
Bason und sein Bruder warteten in wenigen Schritten Abstand. Beide fuhren überrascht zusammen, als sie ihn erblickten, und Basons Augen wurden groß vor Schrecken, während Rason eher verwirrt aussah und dann mit einem Ausdruck niedergeschlagenen Begreifens die Stirn runzelte. Ohne Hast und mit einem gezwungenen Lächeln auf den Zügen ging Andrej auf die beiden zu.
»Andreas?«, murmelte Bason verwirrt. »Oder ...?«
»Nein, nein«, antwortete Andrej ruhig. »Andreas war schon richtig.«
Vielleicht begriff Bason noch, was diese Worte wirklich bedeuteten, aber weder er noch sein Bruder kamen auch nur dazu, nach ihren Waffen zu greifen.
Es war nicht besonders schwer gewesen, der Spur zu folgen, die Abu Dun hinterlassen hatte. Dennoch war Andrej nach einer Weile davon abgewichen und hatte einen großen Bogen in westlicher Richtung geschlagen, als ihm klar geworden war, wohin der Nubier ritt - an den einzigen Ort, der Sinn machte, wenn Elenas und Ankas Plan aufgehen sollte. Er verlor eine Menge Zeit dadurch, wertvolle, möglicherweise sogar unwiederbringliche Zeit, aber er wagte es trotzdem nicht, auf dem kürzesten Weg zu Handmanns Mühle zu reiten, denn er konnte es nicht riskieren, einfach darauf zu bauen, dass Ankas Tochter hundertprozentig davon überzeugt war, dass ihr Plan aufging, und nicht vielleicht doch jemanden zurückließ, der den Weg im Auge behielt. Nachdem er Bason und seinen Bruder getötet und ihre Lebenskraft in sich aufgenommen hatte, fühlte er sich wieder einigermaßen erfrischt und bei Kräften, aber er war noch weit davon entfernt, so stark wie früher zu sein. Elena hatte ihm fast seine ganze Kraft genommen, und er konnte es sich einfach nicht leisten, auch nur einen Atemzug damit zu verschwenden, sich unter Umständen aus einem Hinterhalt freizukämpfen. Dass er Anka besiegt hatte, hatte mehr mit Glück als mit irgendetwas anderem zu tun, und Andrej war nicht so vermessen, einfach darauf zu bauen, dass ihm sein Glück auch treu blieb.
Der Himmel im Osten begann sich rot zu färben, als er in den Wald eindrang und sich dem Dunkel mit der ausgebrannten Ruine der alten Mühle aus Richtung der Stadt näherte. Der Wald schien jetzt, bei Nacht, noch unheimlicher und lebensfeindlicher als das erste Mal, als er hier gewesen war, aber etwas hatte sich verändert. Nicht alles Leben war erloschen. Irgendwo vor ihm hallten die lautlosen Entsetzensschreie sterbender Seelen durch die Nacht, und er konnte das Blut riechen, noch bevor die Mühle in Sichtweite kam und er sein Pferd zügelte. Vielleicht kam er schon zu spät.