Выбрать главу

»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej. »Noch nicht. Bleibt hier! Kümmert Euch um Flock. Und wenn ich es nicht ... schaffen sollte, dann lauft weg. Versucht Euch irgendwo zu verstecken, bis alles vorbei ist.«

»Vorbei?«, murmelte Schulz. »Was?«

Statt zu antworten, richtete sich Andrej langsam hinter seiner Deckung auf und sah wieder zum Weg hinunter. Abu Dun stand immer noch wie angewurzelt da, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Sie waren ganz nahe, aber vielleicht reichte die Zeit ja noch ...

Sie reichte nicht. Aus dem Unterholz tauchten lautlos vier geisterhafte, schlanke Schemen auf, noch bevor Andrej die halbe Strecke zurückgelegt hatte, und begannen den Nubier und sein Opfer zu umzingeln. Sie mussten Andrej gesehen haben, denn er hatte die Sinnlosigkeit seines Versteckspieles eingesehen und bewegte sich nun ganz offen auf sie zu. Doch es schien sie nicht zu kümmern, denn ihre schmalen, im Mondlicht totenbleich schimmernden Gesichter waren starr auf Abu Dun gerichtet. Sie hatten nun keine Ähnlichkeit mehr mit Kindern, sondern sahen aus wie das, als das Flock sie vom ersten Moment an bezeichnet hatte: Dämonen.

»Tu es nicht, Abu Dun!«, rief Andrej.

Der Nubier reagierte nicht. Andrej war nicht sicher, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Reglos stand er da, das Schwert gezogen und den Blick starr auf den verletzten Inquisitor gerichtet, der mittlerweile aufgehört hatte, zu wimmern und den schwarzgesichtigen Hünen aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Seine Hände hatten zu zittern begonnen.

Andrej ging langsamer weiter und blieb einen Schritt hinter Abu Dun stehen. Dann schob er sein Schwert zurück in den Gürtel. Dies war nicht länger der Moment für Waffen. Stahl vermochte den Nubier nicht aufzuhalten.

»Abu Dun«, sagte er eindringlich. »Tu es nicht! Du kannst ihnen widerstehen.«

Einer der beiden jüngeren Knaben löste seinen Blick von Abu Dun und sah zu Andrej hoch. Er hatte erwartet, Hass in den Augen des Jungen zu erblicken oder Zorn, aber alles, was er darin las, war ein höhnischer Triumph.

Abu Dun zitterte immer stärker. Er hob das Schwert und ließ die Waffe dann wieder sinken, als wäre sie plötzlich zu schwer für ihn - und sank dann langsam neben dem verletzten Kirchenmann auf die Knie.

»Hilf mir, Andrej«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Hilf mir!«

»Das kann ich nicht«, sagte Andrej.

»Dann töte mich!« Plötzlich schrie Abu Dun auf, fuhr herum und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Runde. Blankes Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er das knappe Dutzend toter Soldaten gewahr wurde, die auf dem Weg und den Pfad zum Hügel hinauf dalagen.

»Es ist noch nicht zu spät«, sagte Andrej eindringlich. »Du kannst es besiegen. Ich habe es geschafft, und du kannst es auch.«

»Hilf mir!«, wimmerte Abu Dun. Er zitterte am ganzen Leib. Seine Hand hatte nicht mehr die Kraft, das Schwert zu halten. Es fiel dicht neben dem Inquisitor zu Boden.

»Warum verschwindest du nicht, Missgeburt«, zischte Elenas Tochter. »Fühl dich bloß nicht zu sicher. Vielleicht dürfen wir dir nichts tun, aber wer weiß - möglicherweise sind wir ja unartige Kinder, die nicht auf das hören, was ihre Mutter ihnen sagt?«

Andrej ignorierte sie. Er empfand jetzt keine Furcht mehr vor diesen Geschöpfen. Nicht, nachdem er wusste, was sie wirklich waren. »Kämpf dagegen an, Abu Dun«, sagte er noch einmal. »Du kannst es.«

»Aber welchen Sinn hätte es, Andreas?«, fragte jemand hinter ihm.

Andrej schloss die Augen und versuchte vergeblich, ein leises Stöhnen zu unterdrücken, als er Elenas Stimme erkannte und ihre Nähe spürte. Irgendetwas in ihm begann zu zerbrechen.

»Du weißt, dass er diesen Kampf nicht gewinnen kann, Andreas«, fuhr Elena fort. Er konnte hören, wie sie näher kam und weniger als zwei Schritte hinter ihm stehen blieb. Selbst über die Entfernung spürte er ihren Duft und glaubte, hinter seinen geschlossenen Lidern ihren verlockenden Körper vor sich zu sehen, wie er einst nackt im Mondlicht geschimmert hatte. »So wenig wie du. Obwohl ich mir da nicht einmal mehr sicher bin. Du überraschst mich immer wieder.«

»Warum?«, fragte er. »Weil ich noch lebe? Es tut mir Leid, wenn ich dich enttäuschen muss.«

»Warum sagst du das?«, fragte Elena. Der Schmerz in ihrer Stimme klang echt. Beinahe hätte er ihn wirklich überzeugt. »Ich hatte nie vor, dir ein Leid anzutun.«

»Oh nein«, sagte Andrej. »Ich bin sicher, du wirst gleich morgen Abend wieder in mein Bett kriechen, um zu sehen, ob ich vielleicht noch eine vierte Nacht mit dir überlebe.«

»Ich bin nun einmal, was ich bin«, antwortete Elena. »Genau wie du. Willst du mir meine Natur zum Vorwurf machen?«

»So wie die deiner Mutter?«, fragte Andrej.

Elena schwieg eine Weile. »Du hast sie getötet«, sagte sie dann.

Andrej nickte.

»Dann ist ein Teil von ihr jetzt auch ein Teil von dir«, sagte Elena. »Vielleicht bist du tatsächlich der, auf den wir gewartet haben. Warum wehrst du dich, Andreas? Sieh endlich ein, dass du zu uns gehörst. Zu mir.«

Und vielleicht hatte sie ja Recht. Wieso entsetzte ihn das Gemetzel so sehr, das Abu Dun angerichtet hatte? Er selbst hatte ihm Laufe seines Lebens so viel mehr Männer getötet, und nur die wenigsten von ihnen hatten eine echte Chance gehabt. Und auch in ihm wohnte das gleiche Ungeheuer, das er in Ankas Seele gespürt hatte, dasselbe Raubtier, das in Gestalt einer wunderschönen, verlockenden Frau hinter ihm Stand. Vielleicht hatte sie Recht. Es konnte kein Zufall sein, dass er so lange durch die Welt gezogen war, so viele seiner Art getroffen hatte, und dass er niemals auch nur einem einzigen begegnet war, der wie er der Verlockung des Blutes so lange widerstanden hatte. Ja. Er gehörte zu ihr. Er konnte diesen Kampf noch ein Menschenleben lang führen oder auch zwei oder hundert, aber am Ende würde er ihn verlieren. Warum ihn dann überhaupt kämpfen? Warum ein Dasein auf der Flucht und in ständiger Angst vor sich selbst einem Leben an Elenas Seite vorziehen? Sie konnte ihm gehören, sie würde ihm gehören, jetzt, wo es Anka nicht mehr gab und Laurus ... Er musste einfach nur stehen bleiben und nichts tun, und statt eines Millenniums auf der Flucht und einer Ewigkeit voller Angst und Selbstzweifeln wartete ein Leben im Schutze einer Familie auf ihn, und ungezählte Nächte, in denen er Elena in den Armen halten und die Wärme ihres Körpers spüren konnte.

»Du kannst ihn nicht mehr retten, Andreas«, sagte Elena noch einmal. »Er ist verloren, wie wir alle. Aber wenn du ihn opferst, gewinnst du mich.«

In diesem Moment schrie Andrej auf, als hätte man ihm einen glühenden Dolch in die Brust gestoßen, wirbelte herum und riss noch in der Bewegung das Schwert aus dem Gürtel. Vermutlich begriff Elena nicht, was geschah, keinesfalls jedoch spürte sie den scharf geschliffenen Stahl des Damaszenerschwertes, das sie enthauptete. Etwas in Andrej starb mit ihr in diesem Moment, schnell und lautlos und unwiderruflich und noch bevor er den Schlag ganz ausgeführt und aus der selben Drehung heraus auch Elenas Tochter niedergestreckt hatte. Das Mädchen sank lautlos neben seiner Mutter zu Boden, und wieder war es Andrej, als erhebe sich ein unsichtbarer dunkler Vogel auf rauchigen Schwingen in die Nacht, um mit einem klagenden Schrei zu vergehen.

Doch Andrej schritt gnadenlos voran, tötete zuerst den älteren Knaben und dann seine beiden jüngeren Brüder, und auch das, was er im letzten Moment in ihren Augen las, würde er nie mehr vergessen, denn in der Sekunde, da sie der tödliche Stahl traf, schien alles Dämonische und Böse von ihnen abzufallen. Und vielleicht waren es nun tatsächlich Kinder, die er erschlug, und keine Höllenbrut, jetzt, wo das Ungeheuer, das sie erschaffen hatte, nicht mehr lebte. Dennoch brachte er es zu Ende. Er konnte nicht anders. Und vielleicht war der Tod, den er ihnen brachte, die einzige Gnade, die es für diese missbrauchten Kreaturen noch gab.