»Dann ist es vielleicht besser, wenn wir gehen!« Andrejs Stimme klang bitter. Die Enttäuschung saß so tief, dass sie fast körperlich schmerzte.
»Unsinn! Dein Freund ist verwundet. Er ist zu stolz, um es zuzugeben, aber er kann nicht gehen, und schon gar nicht reiten.«
»Das ist ... ist nicht wahr«, lallte Abu Dun. »Ich brauche nur noch ... einen Schluck von diesem ... köstlichen Beerensaft, um ...«
»... vom Stuhl zu fallen und dir auch noch das letzte bisschen Verstand aus dem Schädel zu schlagen, ich weiß.« Andrej beugte sich über den Tisch und nahm Abu Dun den Weinkrug weg. Der Nubier sah enttäuscht aus, sagte aber nichts.
»Ihr habt so lange nach mir gesucht, da ist es nur recht und billig, wenn ihr so lange hier bleibt, bis der Araber sich erholt hat«, fuhr Anka ungerührt fort. »Zwei oder drei Tage werden genügen. Danach mögt ihr eurer Wege gehen.«
»Danke«, sagte Andrej.
»Bedanke dich, nachdem Rason dir gesagt hat, was du dafür tun musst«, kicherte Anka. »Bei uns findet jeder Obdach, aber es ist nicht umsonst. Und jetzt bring deinen betrunkenen Freund nach draußen. Rason wird euch zeigen, wo ihr schlafen könnt.«
Die Enttäuschung hatte ihn bis in seine Träume hinein verfolgt, und ihm für den Rest der Nacht einen unruhigen Schlaf beschert. Abu Dun, der mehr getrunken zu haben schien als nur einen Krug Wein, war zwar auf der Stelle eingeschlafen, warf sich jedoch stöhnend von einer Seite auf die andere und schnarchte, dass es Andrej das letzte bisschen Schlaf raubte.
Gegen Sonnenaufgang, als das Lager langsam zum Leben erwachte, kroch er ans Tageslicht.
Rason hatte ihnen ein Zelt weit am Rande des Lagers zugewiesen, ob zufällig oder mit Bedacht, konnte Andrej nicht sagen. Das Vertrauen der Sinti in ihre unbekannten Gäste schien jedoch nicht so vorbehaltlos zu sein, wie Rason sich den Anschein gegeben hatte. Zwar konnte Andrej keinen Wachposten ausmachen, als er das Zelt verließ und sich aufrichtete, aber er spürte, dass vor wenigen Momenten noch jemand hier gewesen war. Er musste nicht lange suchen, bis er die Spuren von zwei Männern im Gras entdeckte. Vermutlich die beiden, die auch hinter Ankas Wagen Wache gestanden hatten. Andrej registrierte die Entdeckung mit Genugtuung. So verhasst ihm überzogenes Misstrauen war, so wenig schätzte er Menschen, die zu vertrauensselig waren. Sie brachten damit oft genug nicht nur sich selbst, sondern auch andere in Gefahr.
Bald würde es hell werden. Andrej schlug fröstelnd die Arme um den Oberkörper, drehte sich halb um seine eigene Achse und ging dann auf die nächstgelegene Feuerstelle zu. Die Flammen waren im Laufe der Nacht erloschen, aber in der Asche gab es noch genügend Glut. Er brauchte nur ein paar trockene Zweige und zwei oder drei Lungen voll Luft, um das Feuer wieder anzufachen.
»Du machst dich nützlich«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Das ist gut.«
Andrej drehte sich um und erkannte Rason, der lautlos wie ein Schatten herangekommen war.
»Ich bin hungrig«, antwortete er lächelnd. »Und eure Anführerin hat mir klargemacht, dass ich arbeiten muss, wenn ich essen will.«
»Damit hat sie zwar Recht, aber Anka ist nicht unsere Anführerin«, erwiderte Rason kopfschüttelnd. »Du darfst sie nicht zu ernst nehmen. Sie ist alt und manchmal seltsam. Wir haben für jeden ein Stück Brot und einen Becher Wasser, der darum bittet.«
»Wir stehen schon viel zu tief in eurer Schuld«, beharrte Andrej. »Wenn ihr nicht gekommen wärt, dann wären wir jetzt wahrscheinlich tot. Abu Dun zumindest.«
Rasons Gesicht spiegelte völlige Verständnislosigkeit. »Tot?«
»Wegen dieser Kinder«, erklärte Andrej. Wenn es denn Kinder waren.
»Kinder?« Rason runzelte die Stirn. »Ich habe keine Kinder gesehen.«
»Aber...«
»Mein Bruder und ich haben euch unten am Bach gefunden«, fuhr Rason fort. »Bewusstlos. Aber da waren keine Kinder. Was soll mit ihnen gewesen sein? Haben sie euch bestohlen?«
Andrej starrte den jungen Zigeuner durchdringend an. Es war nicht so, dass er Gedanken lesen konnte, aber seine scharfen Sinne machten es ihm leicht zu erkennen, ob ihn jemand belog. Bei Rason spürte er nichts dergleichen.
»Sprich weiter.«
»Da gibt's nicht mehr viel zu sagen«, antwortete Rason. »Ihr wart bewusstlos. Beide. Wir haben uns ein wenig umgesehen und eure Pferde und euer Gepäck gefunden. Es sah aus, als hätte man versucht, euch zu bestehlen.« Erneut zuckte er die Achseln. »Wir waren der Meinung, ihr hättet die Diebe überrascht und verfolgt, und dabei wäre es zum Kampf gekommen.« Er blinzelte. Die Andeutung eines spöttischen Lächelns erschien in seinen Augen. »Ihr seid von Kindern überfallen worden?«
»Ganz so war es nicht«, antwortete Andrej ausweichend und rettete sich schließlich in ein verlegenes Grinsen. »Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen. An alles andere erinnere ich mich nicht mehr so genau.«
»So was kommt vor«, bestätigte Rason. Er schmunzelte. »Aber immerhin haben wir eure Pferde. Und euer Gepäck auch. Ich glaube nicht, dass etwas von Wert fehlt.«
»Ihr habt unsere Sachen durchsucht?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Rason ungerührt. »Man muss doch wissen, mit wem man es zu tun hat. Ihr habt eine Menge Geld bei euch. Mit so was sollte man vorsichtig sein. Sonst muss man sich nicht wundern, wenn man überfallen wird.«
Irgendetwas an diesen Worten störte Andrej. Sie enthielten eine versteckte Kritik. Irritiert fragte er: »Habt ihr zufällig auch ein Schwert gefunden?«
»Es liegt in meinem Wagen«, antwortete Rason. »Eine prachtvolle Waffe - vor allem für einen einfachen Händler und Kaufmann. Ich gebe zu, ich war in Versuchung, sie zu behalten. Aber nur kurz.«
Andrej beschloss, die beiden letzten Sätze nicht gehört zu haben. »Es ist ein prachtvolles Schwert«, bestätigte er. »Ich habe es von einem Söldner gekauft, der seine Zeche nicht bezahlen konnte.«
»Ein gutes Geschäft.«
»Ich konnte mich bisher nicht davon trennen, obwohl es gute Angebote gab. Außerdem wird man respektiert, wenn man eine solche Waffe trägt.«
»Ja«, sagte Rason trocken. »Oder überfallen.« Er lachte. »Jetzt geh und weck deinen Freund. Gleich gibt's was zu essen, und danach beraten wir, was weiter mit euch geschieht.«
Abu Dun zu wecken, erwies sich als schwieriger, als Andrej ohnehin schon befürchtet hatte. Endlich erwacht konnte oder wollte sich der Nubier nicht mehr genau an das Gespräch mit Anka erinnern, und das, was Andrej ihm über seine Unterhaltung mit Rason erzählte, bedachte er nur mit einem Achselzucken. Schließlich gab Andrej auf und verließ das Zelt.
Obwohl nicht viel Zeit vergangen war, hatte sich das Lager vollkommen verändert. Überall, auch in den meisten Wagen, brannten Feuer. Andrej schätzte die Zahl der Männer und Frauen, die er sah, auf mehrere Dutzend. Die Sippe war größer, als er angenommen hatte.
Rason saß zusammen mit drei weiteren Zigeunern um das Feuer herum, an dem Andrej ihn zurückgelassen hatte, und winkte ihn zu sich heran. »Und?«, fragte er. »Wie geht's deinem Freund?«
»Frag ihn das besser nicht!«, empfahl Andrej. »Wahrscheinlich kann man ihn erst nach der Mittagsstunde wieder ansprechen.« Er folgte Rasons Geste, ließ sich mit untergeschlagenen Beinen am Feuer nieder und warf einen raschen Blick in die Runde. Gleich neben Rason saß der junge Zigeuner, den er gestern Nacht in Ankas Wagen getroffen hatte. Jetzt, da er die beiden nebeneinander sah, war er sicher, dass es sich bei ihm und Rason um Brüder handeln musste, möglicherweise sogar um Zwillinge. Neben den beiden Jungen saß eine dunkelhaarige Schönheit, die seinen Blick ohne Scheu, aber auch ohne die Spur eines Lächelns, erwiderte. An ihrer Seite hatte sich ein grauhaariger älterer Mann niedergelassen, den eine Aura von Autorität umgab.