»Und welche?«, Abu Dun druckste einen Moment herum.
»Ich kann nicht schwimmen«, gestand er endlich. Andrej blinzelte verwirrt.
»Wie?«
»Ich kann nicht schwimmen«, wiederholte Abu Dun finster. »Ich habe es nie gelernt. Wozu auch? Ich hatte ein Schiff.«
»Ein Pirat, der nicht schwimmen kann?«, fragte Andrej ungläubig.
»So wie ein Hexenmeister, der nicht hexen kann.«
»Ich bin kein Hexenmeister.«
»Und ich kein Pirat.« Abu Dun zog eine Grimasse. »Was ist? Wirst du es tun?«
Andrej überlegte einen Moment. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer und er konnte lange die Luft anhalten; möglicherweise wirklich lange genug, um zum Wrack des Sklavenseglers hinabzutauchen und etwas aus Abu Duns Gemach zu holen. Der Pirat hatte Recht: Sie würden jede einzelne Münze, die er vielleicht aus dem versunkenen Piratenschiff bergen konnte, brauchen. Aber es war riskant. Das Wasser war eiskalt und er hatte die enorme Kraft der Strömung am eigenen Leib gespürt. Er kannte sich auf dem Schiff nicht aus und dazu kam, das er nicht wußte, in welchem Zustand sich das Wrack befand. Griechisches Feuer entwickelte eine unvorstellbare Hitze. Möglicherweise war von Abu Duns Schatz nichts mehr da.
»Also gut«, sagte er.
»Wir warten eine Weile. Wenn sie verschwunden sind, versuche ich es. Wenn nicht, machen wir uns zu Fuß auf den Weg.« Es verging eine erhebliche Zeit, bis sie es wagten, ihr Versteck zwischen den Felsen zu verlassen. Kurz vor Ablauf der Frist, die Andrej willkürlich gesetzt hatte, setzte die ›Möwe‹ ein einzelnes, für den plumpen Rumpf entschieden zu kleines Segel, drehte sich in die Strömung und nahm Fahrt auf, und auch der Drachensegler löste sich mit einer behäbigen Bewegung aus seiner Position und begann sich auf der Stelle zu drehen.
Andrej hatte es am Morgen nicht bemerkt, aber nun sah er, das das Schiff nicht allein auf das riesige Segel mit dem blutroten Drachensymbol angewiesen war, sondern über mehr als ein Dutzend mächtiger Ruder verfügte, die mit gleichmäßigen Bewegungen ins Wasser tauchten und das Schiff langsam von der Stelle bewegten. Andrej hatte hastig das Feuer gelöscht und sie hatten sich eng zwischen die Felsen geduckt und gewartet, bis der unheimliche schwarze Segler vorübergeglitten war. Er bewegte sich genau in der Flussmitte, weil das Wasser dort am tiefsten war, aber der Nebel war endgültig fort und auch die Wolken hatten sich fast vollkommen aufgelöst, sodass er das Schiff viel deutlicher als in der Nacht erkennen konnte. Es wirkte auch im hellen Tageslicht unheimlich und Furcht einflößend, aber nicht mehr annähernd so majestätisch wie in der Nacht. Von der morbiden Schönheit, die es trotz allem gehabt hatte, war nichts geblieben; es wirkte einfach nur schäbig. Von dem Ritter in der blutfarbenen Rüstung war nichts zu sehen. Trotzdem beobachtete Andrej das Schiff so konzentriert, wie er konnte. Es fuhr nur langsam vorüber, denn selbst die gewaltigen Ruder hatten es nicht leicht, gegen die Strömung anzukämpfen. Das Schiff war von älterer Bauart und sehr groß, wenn auch nicht so gewaltig, wie es ihm in der Nacht vorgekommen war. Die Kombination aus Segeln und Rudern machte es vermutlich sehr beweglich, aber auch langsam.
Das Segel mit dem aufgestickten roten Drachen war zerrissen und an zahllosen Stellen geflickt und die schwarze Farbe, mit der jeder Zentimeter des Rumpfes bedeckt war, erwies sich als Teer auch wenn Andrej sich nicht vorstellen konnte, welchem Zweck er diente. Ein knappes Dutzend Männer hielt sich an Deck auf, auch sie waren ausnahmslos in Schwarz gekleidet und ziemlich heruntergekommen. Sie waren zu weit entfernt, als das er wirklich Einzelheiten erkennen konnte, aber er hatte eher den Eindruck, es mit Sklaven zu tun zu haben statt mit Kriegern; oder zumindest mit Männern, die zum Dienst gezwungen worden waren. Er prägte sich jedes noch so winzige Detail ein, während das Schiff langsam vorüberglitt. Andrej war ein wenig enttäuscht, seinen unheimlichen Kapitän nicht noch einmal aus der Nähe sehen zu können, zugleich aber auch fast erleichtert. Er war nicht mehr sicher, ob der Drachenritter vorhin nur durch einen Zufall in seine Richtung geblickt hatte. Selbst als der schwarze Segler schon außer Sicht gekommen war, blieb Andrej noch im Schutze der Felsen liegen, ehe er aufstand und sich mit seinen Begleitern auf den Weg zurück zu der Stelle machte, von der aus sie vor nicht allzu langer Zeit aufgebrochen waren. Frederic versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber Andrej ließ sich nicht beirren. Er zog seine Kleider aus, wies Frederic und Abu Dun an, ein neues Feuer zu entzünden, stieg ins Wasser und schwamm zu der Stelle, an der Abu Duns Schiff untergegangen war. Der Pirat hatte ihm erklärt, wo er zu suchen hatte, und er machte sich unverzüglich an die Arbeit.
Der Fluss war an dieser Stelle tatsächlich nicht besonders tief, aber das Schiff lag auf der Seite und es war fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Das Wasser war so trüb, das er praktisch blind war. Er brauchte allein drei Versuche, um Abu Duns Quartier zu finden. Es dauerte lange, bis er mit seiner Beute zum Ufer zurückkam. Sie war mager genug. Er hatte zwei Beutel mit Goldmünzen gefunden, die einen enormen Wert darstellen mochten, Abu Dun aber ganz und gar nicht zufrieden stellten. Statt Lob schüttete er einen Schwall von Verwünschungen und Vorwürfen über Andrej aus. Andrej ließ die Vorhaltungen des Piraten schweigend über sich ergehen. Er konnte ihn sogar verstehen. In der Kabine des Piraten hatte er ganze Kisten voller Geschmeide und Edelsteine entdeckt, aber nichts davon mitgenommen. Es hatte ihn sogar einige Mühe gekostet, die beiden schmalen Beutel mit Münzen zu finden. Sie brauchten keinen Schmuck, sie brauchten Geld. Zumindest für die Reise, die vor ihnen lag, würde ihre Barschaft reichen. Er tröstete Abu Dun mit dem Hinweis, das er ja später wiederkommen und sein Schiff und seine kostbare Fracht bergen lassen konnte, zog seine Kleider wieder an und drängte zum Aufbruch. Frederic konnte sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen, aber Abu Dun hüllte sich für die nächste Zeit in beleidigtes Schweigen - zumal Andrej keine Anstalten machte, ihm seinen vermeintlichen Besitz zurückzugeben, sondern die beiden Geldbeutel sicher unter seinem Gürtel verstaute.
Es war fast Mittag, als sie die Felsgruppe hinter sich ließen, in der sie am Morgen das Feuer gemacht hatten. Auch Andrej hatte mittlerweile Hunger und war so müde, das er am liebsten gleich wieder eine Rast eingelegt hätte, um eine Weile zu schlafen. Das war der Preis, den er für seine Beinahe-Unverwundbarkeit zu zahlen hatte. Sein Körper vermochte Wunden mit fast unheimlicher Schnelligkeit zu heilen, aber er brauchte dafür Energie. Vielleicht mehr, als er ihm im Moment zur Verfügung stellen konnte. Sie marschierten noch ein paar Dutzend Schritte weiter, dann blieb Abu Dun plötzlich stehen und deutete die Uferböschung hinauf.
»Da oben scheint mir der Weg besser zu sein«, sagte er. Andrej folgte seinem Blick. Abu Dun hatte Recht. Der Wald lichtete sich dort oben. Das Unterholz war nicht mehr so undurchdringlich wie an den meisten Stellen und zwischen den Bäumen schimmerte es hell. Vielleicht war es nur ein schmaler Streifen, der die Uferböschung flankierte. Im Gegensatz dazu wurde das Gelände unmittelbar am Wasser stetig unwegsamer. Im Sand türmten sich immer mehr Felsen und scharfkantige Steine, die das Vorankommen zu einer mühsamen und kräftezehrenden Angelegenheit machen würden.
»Einverstanden«, sagte er.
»Außerdem haben wir von dort aus einen besseren Überblick.«
»Und werden auch besser gesehen«, sagte Frederic beunruhigt.
»Das Risiko müssen wir schon eingehen«, antwortete Andrej.
»Hier unten kommen wir zu langsam voran.«
»Aber ...«, begann Frederic.
»Du kannst ja hier bleiben«, fiel ihm Andrej scharf ins Wort.
»Meinetwegen kannst du auch schwimmen!« Seine Geduld war zu Ende. Er hatte bis jetzt Nachsicht mit dem jungen geübt, soweit es ihm möglich war, aber nun war es genug. Er funkelte Frederic zornig an, dann fuhr er herum und ging mit weit ausladenden Schritten die Böschung hinauf. Oben blieb er stehen, nicht nur, damit Abu Dun und Frederic zu ihm stoßen konnten, sondern auch, um sich umzusehen. Der Wald war hier oben eigentlich kein Wald mehr, sondern nur noch ein schmaler Streifen, hinter dem das Gelände wieder sanft abfiel und zum größten Teil mit Gras, vereinzelten Büschen und wenigen, zumeist halbhohen Bäumen bewachsen war. Das Gehen würde ihnen auf diesem Untergrund weitaus leichter fallen. Weit entfernt glaubte er einen leichten Dunstschleier in der Luft wahrzunehmen. Vielleicht war es Rauch. Eine Stadt? Abu Dun kam mit gemächlichen Schritten auf ihn zu und grinste zufrieden. »Das wäre dann ein weiterer Punkt zu meinen Gunsten«, sagte er. »Ich muss allmählich anfangen, Buch zu führen, um den Überblick nicht zu verlieren.«