»Ein Punkt für dich?« Andrej schüttelte den Kopf.
»Nur wenn du uns trägst.«
»Du lernst schnell, Hexenmeister«, sagte Abu Dun. Er lachte.
»Komm. Der Tag ist noch jung.«
»Das ist Wahnsinn«, beschwerte sich Frederic.
»Wir sind über Meilen hinweg zu sehen.«
»Und warum auch nicht?«, fragte Andrej, während sie losgingen.
»Wir sind harmlose Reisende, die nichts zu verbergen haben. Wir suchen Menschen, Frederic.« Er wies im Gehen auf den Dunst am Horizont, von dem er mittlerweile sicher war, das es sich um den Rauch von Kaminfeuer handelte.
»Mit etwas Glück können wir dort ein Pferd kaufen oder einen Wagen. Hast du Lust, ein paar hundert Meilen zu Fuß zu gehen?« Er gab sich Mühe, in freundlichem Ton zu sprechen. Sein Zorn war schon wieder verflogen. Frederic schien auch nicht daran gelegen zu sein, den Streit fortzusetzen, denn er beließ es nur bei einem störrischen Blick. Er wirkte sehr unruhig.
»Vielleicht finden wir ja ein paar Beeren«, rief Abu Dun, der vorausging.
»Oder auch ...« Er stockte, blieb mitten in der Bewegung stehen und machte dann plötzlich einen Schritt nach rechts, um sich in die Hocke sinken zu lassen. Andrej trat zu ihm und tat es ihm gleich. Er fuhr überrascht zusammen, als er sah, was Abu Dun aus dem Gras aufhob. Auf den ersten Blick war es nicht mehr als ein ganz normaler Hase. Aber er war schrecklich zugerichtet. Eines seiner Ohren war abgerissen. Beide Augen waren herausgedrückt und als Abu Dun sein Maul öffnete, sah er, das auch seine Nagezähne herausgebrochen waren.
»Bei Allah«, murmelte Abu Dun.
»Welches Tier tut so etwas?« Andrej konnte diese Frage nicht beantworten. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welches Raubtier seine Beute so zurichten würde. Ein Raubtier, egal ob Katze, Wiesel oder Fuchs, hätte sich kaum damit begnügt, ihn zu töten, ohne wenigstens einen Teil seiner Beute zu verschlingen.
»Fällt dir nichts auf?« Abu Dun schüttelte den Hasen leicht hin und her. Der winzige Körper bewegte sich auf sonderbar falsche Weise und Andrej begriff, das jeder Knochen im Leib des Hasen zerschmettert sein mußte. Er schüttete trotzdem den Kopf. Abu Dun griff nun auch mit der anderen Hand zu und riss zu Andrejs Entsetzen den Kopf des Hasen mit einem einzigen Ruck ab!
»Verdammt!«, rief Andrej erschrocken.
»Was soll das? Bist du ...« Dann sah er, warum Abu Dun das getan hatte.
»Kein Blut«, sagte Abu Dun düster.
»Jemand hat diesem Tier alles Blut ausgesaugt.« Er ließ den zerteilten Hasen fallen, stand auf und wischte sich angeekelt die Hände an den Kleidern ab. Sein Blick irrte in die Runde.
»Was ist das für eine Teufelei? So etwas tut doch kein Tier!«
»Was denn sonst?«, fragte Frederic bissig.
»Glaubst du etwa, hier treibt ein Dämon sein Unwesen?« Er deutete auf den zerteilten Hasen.
»Warum braten wir ihn nicht, jetzt, wo du ihn schon halb zerlegt hast?« Abu Dun starrte ihn fassungslos an und auch Andrej spürte ein eisiges Frösteln. Schon bei dem bloßen Gedanken, dieses Tier zu verzehren, drehte sich ihm schier der Magen um..
»Wir finden schon etwas anderes zu essen«, sagte er.
»Kommt, gehen wir weiter.«
6
Sie waren nach einer Weile auf eine Straße gestoßen, die grob in westliche Richtung führte, aber der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, bis sie auf die ersten Menschen trafen. Was Andrej in der Ferne gesehen hatte, war tatsächlich der Rauch von Kaminfeuer gewesen; eine kleine Stadt. Aber sie war viel weiter entfernt, als er geschätzt hatte, und die Straße führte keineswegs in gerader Linie darauf zu, sondern schlängelte sich in Windungen. Obwohl sie breit ausgebaut und in gutem Zustand war, begegnete ihnen den ganzen Tag über kein Mensch. Als sie sich der Ortschaft näherten, sah Andrej, das es sich eher um eine kleine Festung als um ein Dorf zu handeln schien. Eine mehr als zwei Meter hohe, hölzerne Palisadenwand umgab die guten zwei Dutzend einfacher Gebäude, von denen einige in grober Fachwerkbauweise, die meisten aber aus Felsgestein und Lehm errichtet waren. Es gab auch einen hölzernen Wachturm, von dessen gut acht Meter hoher Plattform aus man das Land in weitem Umkreis überblicken konnte und ein zwar weit offen stehendes, aber sehr massiv wirkendes Tor. Die ganze Verteidigungsanlage war alt und an zahllosen Stellen geflickt und ausgebessert worden, aber in tadellosem Zustand. Die Dorfbewohner begegneten ihnen mit dem natürlichen Misstrauen einfacher Leute, aber trotzdem freundlich. Es gelang Andrej, für einen überraschend geringen Preis ein Nachtquartier für Frederic, Abu Dun und sich zu erstehen und für die kleinste Münze aus Abu Duns Beutel ein Abendessen. Es gab gebratenen Hasen. Obwohl der Ort klein war, hatte er einen überraschend großen Gasthof mit gleich mehreren Zimmern, dessen Schankraum sich rasch zu füllen begann, kaum das die Sonne untergegangen war. Frederic der als einziger mit wirklichem Appetit zugegriffen hatte, als er den gedünsteten Hasen erblickte - hatte sich direkt nach dem Essen zurückgezogen, aber Andrej und Abu Dun waren noch geblieben. Auch Andrej hätte nichts lieber getan, als nach oben zu gehen und sich in einem bequemen Lager auszustrecken.
Seit einiger Zeit hatte er nur auf nacktem Boden geschlafen, allenfalls mit seinem Sattel als Kopfkissen, und die Vorstellung, sich in einem richtigen Bett ausstrecken zu können - selbst wenn es nur aus einem strohgefüllten Sack bestand -, erschien ihm geradezu paradiesisch. Doch sie brauchten Informationen. Sie mussten wissen, wo genau sie sich befanden, wer in diesem Teil des Landes herrschte, welche größeren Städte es in der Umgebung gab und welche davon sie besser mieden ... tausend Fragen, von denen vielleicht jede einzelne über Leben und Tod entscheiden konnte. Und sie brauchten Pferde. Andrej wußte, das sie diese Fragen nicht unvermittelt stellen konnten. Die Menschen in dieser einsamen Gegend waren begierig auf Neuigkeiten, aber sie hassten es, wenn jemand selbst zu viele neugierige Fragen stellte. Und allein die wehrhafte Palisadenwand, die den ganzen Ort umgab, machte deutlich, das sie einen Grund hatten, Fremden gegenüber misstrauisch zu sein.
Abu Dun erwies sich jedoch als überraschend geschickt darin, ein Gespräch in Gang zu bringen. Am Anfang waren sie noch allein. Zweifellos erfüllte schon der Anblick alles Fremden die Menschen mit Furcht, aber Abu Dun lachte laut und viel, gab dem Wirt Anweisung, an jeden Tisch einen Krug Bier auf seine Kosten zu bringen, und schließlich siegte die Neugier. Nach einer Weile hatten sich fast ein Dutzend Männer an ihrem Tisch versammelt, die auf ihre Kosten tranken, den Geschichten lauschten, die Abu Dun zum Besten gab - und die zweifellos alle ausgedacht, aber sehr kurzweilig waren - und ihnen dabei nach und nach alle Informationen gaben, die sie brauchten. Andrej hielt sich die meiste Zeit zurück, aber er kam nicht umhin, Abu Duns Geschick im Umgang mit Worten mehr und mehr zu bewundern. Der Muselman verstand es ausgezeichnet, das Misstrauen der Dörfler nicht nur zu zerstreuen, sondern auch eine Stimmung zu erzeugen, in der sie mehr von sich aus zu erzählen begannen. Geraume Zeit nachdem Frederic sich zurückgezogen hatte, hätte man meinen können, eine Runde guter alter Freunde säße zusammen und lausche den Erzählungen eines der ihren, der von einer langen, abenteuerlichen Reise zurückgekehrt war. Es mußte auf Mitternacht zugehen, als draußen auf der Straße Lärm aufkam. Andrej glaubte einen Schrei zu hören, aufgeregte Rufe und Schritte. Er sah irritiert zur Tür und auch einige der anderen blickten in die gleiche Richtung. Zwei Männer standen auf und verließen das Gasthaus und auch Andrej wollte schon aufstehen, ließ sich aber dann sofort wieder zurücksinken, als er einen warnenden Blick aus Abu Duns nachtschwarzen Augen auffing; und ein kaum sichtbares, angedeutetes Kopfschütteln. Natürlich hatte der Muselman recht: Was immer dort draußen geschah, ging sie nichts an. Abu Dun hob seinen Becher und winkte dem Wirt damit zu, der eine neue Runde brachte, und es gelang ihm tatsächlich, das für einen Moment ins Stocken geratene Gespräch noch einmal in Gang zu bringen, wenn die Stimmung auch nicht mehr ganz so gelöst war wie zuvor. Die Männer, die bei ihnen am Tisch saßen, blickten immer wieder unruhig zur Tür, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, Abu Duns faszinierenden Geschichten zu lauschen, und der Neugier, zu erfahren, was sich dort draußen abspielte. Zumindest war es kein überraschender Angriff der Türken, dachte Andrej in dem vergeblichen Versuch, sich selbst zu beruhigen. Der Lärm war fast ganz verstummt. Weit entfernt glaubte er eine Frau weinen zu hören, aber nicht einmal dessen war er sich ganz sicher. Die Tür flog auf und einer der Zecher kam zurück, ein großer, ausgemergelter Mann mit schulterlangem schwarzem Haar, der gerade noch am Tisch gesessen und besonders ausgiebig und lang über Abu Duns Anekdoten gelacht hatte. Jetzt war er leichenblass. Seine Hände zitterten und in seinen Augen stand ein Flackern, als wäre er dem Leibhaftigen selbst begegnet.