»Was ist passiert?«, fragte einer der Männer am Tisch.
»Miroslav«, antwortete der Dunkelhaarige. Auch seine Stimme bebte.
»Sie haben ... Miroslavs Tochter gefunden.« Er schloss die Tür hinter sich, kam mit unsicheren Schritten näher und griff nach dem erstbesten Becher auf dem Tisch, um ihn mit einem einzigen Zug zu leeren. Bier lief an seinem Kinn herab und tropfte auf sein Hemd, aber er schien es nicht einmal zu merken.
»Was ist mit ihr? Erzähle!« Der Mann stellte den Becher zurück und sah sich auf eine Art um, als hätte er Mühe, die Gesichter der Anwesenden einzuordnen. Ganz besonders lang starrte er Abu Dun an, wie es Andrej vorkam.
»Tot«, sagte er schließlich.
»Sie ist tot.« Einen Atemzug lang war es vollkommen still, doch dann brach ein regelrechter Tumult los. Die Männer schrien durcheinander und sprangen von ihren Stühlen hoch. Einige rannten aus dem Haus und alle redeten gleichzeitig, bis der Mann, der den Dunkelhaarigen schon vorhin angesprochen hatte, mit einem scharfen Ruf für Ruhe sorgte.
»Erzähl!« sagte er, während er dem Dunkelhaarigen einen zweiten Becher Bier reichte, den dieser zwar entgegennahm, aber nicht trank.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte er nervös.
»Sie haben sie gerade gefunden, vorne beim Tor. Sie muss hinausgegangen sein, ich weiß nicht warum.« Er schüttelte sich.
»Ich habe sie gesehen. Es war grauenhaft. Jemand hat ihr die Augen ausgestochen und ...« Er sprach nicht weiter, aber der Ausdruck in seinen Augen machte deutlich, das dies längst nicht das Einzige war, was man dem Kind angetan hatte. Womöglich nicht einmal das Schlimmste. Er trank einen Schluck Bier.
»Grauenhaft«, murmelte er.
»Sie wurde regelrecht geschlachtet.« Andrej mußte sich mit aller Kraft beherrschen, um nicht erschrocken zusammenzufahren. Er versuchte, einen Blick mit Abu Dun zu tauschen, aber der Pirat sah den Dunkelhaarigen an und schien voll und ganz auf das konzentriert zu sein, was er sagte. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Miene wie erstarrt. Andrej spürte den Blick eines der anderen auf sich ruhen. Er ignorierte ihn einen Moment lang, drehte sich aber dann betont langsam zu dem Mann herum und sah ihm fest in die Augen. Der Ausdruck, den er darin erblickte, gefiel ihm nicht..
»Das ist schrecklich, nicht wahr?« fragte er. Der Mann nickte.
»Ja. Zumal so etwas noch nie vorgekommen ist. Jedenfalls bis heute nicht.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Andrej.
»Nur das, was ich sage«, antwortete der andere.
»Wir leben hier in Frieden. Es gibt keine Mörder hier. Jedenfalls bis jetzt nicht.«
»Bevor wir gekommen sind, meinst du?«, mischte sich Abu Dun ein. Andrej fragte sich, ob er den Verstand verloren hatte.
»Zum Beispiel.«
»Sei kein Narr, Usked«, sagte der Dunkelhaarige.
»Sie waren die ganze Zeit hier. Außerdem kann es kein Mensch gewesen sein.«
»Wieso nicht?«
»Weil kein Mensch zu solch einer Grausamkeit fähig wäre«, antwortete der Dunkelhaarige schaudernd.
»Sie wurde regelrecht in Stücke gerissen, ihr Blut ...« Er rang einen Moment nach Worten, dann schüttelte er noch einmal entschieden den Kopf.
»Nein. Es muss ein Tier gewesen sein. Auch wenn ich mir kein Tier vorstellen kann, das zu so etwas fähig wäre.«
»Vielleicht war es ja auch ein Zauberer«, sagte der Mann stur.
»Jetzt reicht es aber«, mischte sich der Wirt ein. Er war um seine Theke herumgekommen und hatte sich zu ihnen gesellt. In der rechten Hand hielt er einen gefüllten Bierkrug, aber es sah nicht so aus, als wolle er daraus ausschenken, sondern eher, als überlege er, auf welchen Schädel er ihn schlagen sollte.
»Zauberei! Was für ein Unsinn! Es ist ein Kind zu Tode gekommen. Da geziemt es sich nicht, solch gotteslästerlichen Unsinn zu reden!« Er hob den Krug.
»Das ist die letzte Runde, danach geht ihr nach Hause.«
»Er hat Recht«, sagte der Dunkelhaarige.
»Es ist spät. Wir sollten schlafen gehen. Wenn es hell ist, finden wir vielleicht Spuren und können die Bestie jagen, die das getan hat.« Keiner der Männer verspürte noch Durst auf die letzte Runde, die der Wirt angeboten hatte. Sie gingen, und als Letzter verließ auch Usked die Gaststätte, wenn auch nicht, ohne Andrej und insbesondere Abu Dun einen langen, misstrauischen Blick zugeworfen zu haben. Der Wirt sah ihm kopfschüttelnd nach.
»Ich muss für sie um Verzeihung bitten, die Herren«, sagte er.
»Sie sind ...«
»Das ist schon gut«, unterbrach ihn Andrej.
»So etwas ist furchtbar. Ich nehme es ihnen nicht übel. Kanntest du das Kind?«
»Hier kennt jeder jeden«, sagte der Wirt.
»Also sind die einzigen Fremden auch ganz selbstverständlich sofort verdächtig«, fügte Abu Dun hinzu.
»Nur gut, das wir die ganze Zeit hier gesessen und getrunken haben. Sonst ginge es uns jetzt vielleicht an den Kragen.«
»Ja«, sagte der Wirt.
»Aber ihr wart ja hier.« Abu Dun schien der Ton, in dem er dies sagte, nicht zu gefallen, denn er fragte:
»Du glaubst doch diesen Unsinn nicht, das wir Zauberer oder gar Hexenmeister sind?« Der Wirt zögerte eine Winzigkeit zu lange, bevor er antwortete.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte er.
»Vielleicht gibt es Zauberei, vielleicht nicht. Ich weiß nur, das ihr hier wart und es genug Zeugen dafür gibt.« Er machte einen Schritt, um zur Theke zurückzugehen, und blieb dann wieder stehen.
»Aber wenn ich euch einen Rat geben darf ...«.
»Nur zu« sagte Andrej aufmunternd.
»Ihr habt die Leute hier erlebt«, sagte der Wirt. Die Worte bereiteten ihm sichtliches Unbehagen.
»Sie sind sehr erschrocken und zornig, und es sind einfache Leute. Sie werden einen Schuldigen suchen.«
»Du meinst, es wäre besser, wenn wir gleich morgen verschwinden«, sagte Andrej.
»Ihr habt nach Pferden gefragt«, sagte der Wirt, statt direkt zu antworten.
»Ich habe drei Tiere, die ich euch überlassen kann. Sie sind alt und nicht besonders gut zum Reiten geeignet, aber sie können euch nach Tandarei bringen, einen Tagesritt von hier entfernt. Ich gebe euch den Namen meines Bruders. Er hat einen Stall dort. Bei ihm könnt ihr gute Pferde kaufen. Er wird euch einen fairen Preis machen, wenn er hört, das ich euch schicke.«