Jetzt, als Andrej ihn nahezu unbekleidet sah, wurde ihm erst bewusst, wie muskulös und durchtrainiert der Sklavenhändler war: ein Bär von einem Mann, gegen den er mit bloßen Händen nicht die Spur einer Chance hatte. Abu Dun schien seine Meinung zu teilen, denn er erwartete gelassen seinen Angriff. Andrej beging nicht den Fehler, sich nach dem Schwert zu bücken, das er fallen gelassen hatte, sondern rammte Abu Dun das Knie ins Gesicht. Der Pirat keuchte vor Schmerz und kippte nach hinten, umschlang Andrej aber trotzdem in der gleichen Bewegung mit beiden Armen und riss ihn mit sich. Andrej ächzte, als er spürte, das er den Piraten falsch eingeschätzt hatte: Er war viel stärker, als er geglaubt hatte. Andrej wurde in die Höhe gerissen und rang nach Luft. Seine Rippen knackten. Er spürte, wie zwei oder drei brachen. Der bittere Kupfergeschmack von Blut füllte seinen Mund und der Schmerz wurde für einen Moment so schlimm, das er das Bewusstsein zu verlieren drohte. Verzweifelt strampelte er mit den Beinen, schlug zwei-, dreimal mit der Faust in Abu Duns Gesicht und versuchte schließlich, ihm die Finger in die Augen zu bohren. Abu Dun drehte mit einem wütenden Knurren den Kopf zur Seite und drückte mit noch größerer Kraft zu. Andrejs Rippen brachen wie trockene Zweige. Dann erscholl ein lautes, trockenes Knacken. Jegliches Gefühl wich aus Andrejs unterer Körperhälfte. Er erschlaffte in Abu Duns Armen. Auch der Schmerz war nicht mehr zu spüren. Abu Dun sprang in die Höhe, wirbelte ihn herum und warf ihn quer durch den Raum an die gegenüberliegende Wand. Andrej fiel hilflos zu Boden, schlug mit dem Kopf gegen die eisenbeschlagene Kante einer großen Holzkiste und verlor für einen Augenblick das Bewusstsein. Er kam zu sich, als Abu Duns riesige Hand sich in sein Haar grub und seinen Kopf mit einem brutalen Ruck herumriss. Die andere Hand des Piraten war zur Faust geballt und zum Schlag erhoben.
»Nein«, sagte Abu Dun. »So leicht mache ich es dir nicht.«
Er ließ Andrejs Haar los, richtete sich auf und versetzte ihm einen Tritt, der Andrej weitere Rippen gebrochen hätte, hätte Abu Dun Stiefel oder nur Schuhe getragen. So jagte nur ein dumpfer Schmerz durch Andrejs Körper, der ihn gequält aufstöhnen ließ. Abu Dun lachte.
»Tut das weh? Nein, es tut nicht weh. Es ist nichts gegen das, was dich noch erwartet.« Die Tür wurde aufgerissen und zwei mit Schwertern bewaffnete Männer stürmten, vermutlich angelockt vom Lärm des Kampfes, herein. Abu Dun fuhr mit einer schlangengleichen Bewegung herum, funkelte sie an und sagte einige wenige Worte in seiner Muttersprache. Andrej verstand nicht, was er sagte, aber der Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Männer war nicht schwer zu deuten. Abu Dun war nicht begeistert, das es einem bewaffneten Attentäter gelungen war, bis in sein Schlafgemach vorzudringen. Er würde die beiden Männer bestrafen; und Andrej war ziemlich sicher, das er es nicht bei ein paar Peitschenhieben belassen würde. Abu Dun verwies die beiden Männer mit einer zornigen Handbewegung des Raumes, warf Andrej noch einen verächtlichen Blick zu und verschwand dann aus seinem Gesichtsfeld. Andrej versuchte, sich zu bewegen, aber es ging nicht. Von seinem Rücken ging ein stechender Schmerz aus. Er konnte Arme und Hände bewegen, aber es kostete ihn unendliche Mühe und es war mehr ein Zittern als eine wirkliche Bewegung. Der Pirat hantierte irgendwo außerhalb seines Blickfeldes. Andrej hörte ein Klappern, dann das Rascheln von grobem Stoff. Erneut versuchte er sich zu bewegen und diesmal gelang es ihm wenigstens, den rechten Arm ein kleines Stück auszustrecken, wenn auch nicht besonders weit und in keine Richtung, die ihm einen Vorteil eingebracht hätte. Abu Dun mußte die Bewegung wohl gehört haben, denn er lachte roh und sagte:
»Gib dir keine Mühe, Hexenmeister. Ich habe dir das Kreuz gebrochen. Deine Zaubertricks nutzen dir nichts mehr.« Immerhin schloss Andrej aus diesen Worten eines: Das es nicht das erste Mal war, das Abu Dun einen Gegner auf diese Weise ausgeschaltet hatte. Wie er selbst vertraute der Pirat weniger auf seine Waffen als auf seine körperlichen Fähigkeiten. Der Kerl war so stark wie ein Bär. Andrej biss die Zähne zusammen, als ein neuerlicher Schmerz durch seinen Rücken schoss. Seine Beine begannen zu kribbeln. Abu Dun kam auf ihn zu. Er trug jetzt einen grauen Kaftan und darüber einen blütenweißen, weiten Mantel, aber noch keinen Turban.
»Ich bin noch nicht sicher«, sagte er nachdenklich, »ob ich meine Männer bestrafen oder dir Respekt zollen soll, das es dir gelungen ist, so weit zu kommen. Das ist vor dir noch keinem geglückt. Allah hat sie entweder mit Blindheit geschlagen, oder du bist gefährlich wie eine Schlange.« Seine Augen wurden schmal.
»Der Inquisitor hat mich vor dir gewarnt. Er hat gesagt, du wärst mit dem Teufel im Bunde. Ich gestehe, dass ich ihm nicht geglaubt habe. Sie reden einen solchen Unsinn, diese selbst ernannten heiligen Männer ... aber in diesem Fall hat er wohl die Wahrheit gesagt.« Er hob seufzend die Schultern.
»Ich werde meine Männer wohl nicht bestrafen. Oder ich werde sie auspeitschen und dich dann ihrem Zorn überlassen, was meinst du?« Andrej antwortete nicht, sondern biss stattdessen die Zähne so fest aufeinander, das sie knirschten. Abu Dun mochte das für einen Ausdruck von Qual halten, und damit hatte er Recht: Andrejs Rücken fühlte sich an, als würde er ganz langsam in Stücke gerissen, obwohl das genaue Gegenteil der Fall war. Das Leben kehrte in seine Beine und seinen Leib zurück, aber es war ein qualvoller, unendlich schmerzhafter Prozess. Der Pirat beugte sich vor und schnüffelte.
»Du stinkst, Giaur«, benutzte er das arabische Wort für Ungläubiger. Andrej antwortete nicht darauf. Es gelang ihm jetzt kaum noch, einen Schrei zu unterdrücken, und er mußte all seine Willenskraft aufbieten, um die Beine still zu halten. Die Regeneration war fast abgeschlossen. Wenn Abu Dun jetzt begriff, das er nicht so hilflos war, wie es den Anschein hatte, dann war es um ihn geschehen.
»Bist du allein gekommen oder hat Bathory dir eine Abteilung seiner Spielzeugsoldaten mitgegeben?«, fragte Abu Dun, beantwortete seine eigene Frage aber gleich selbst, indem er den Kopf schüttelte und fortfuhr:
»Nein. Hättest du Hilfe, wärst du das Risiko nicht eingegangen, dich hier einzuschleichen ... aber was ist mit dem Jungen? Ist dieser Teufelsbengel auch bei dir? Man hat mir gesagt, er wäre tot, aber dasselbe habe ich auch über dich gehört. Ich denke, er ist auch irgendwo in der Nähe. Es ist wohl besser, wenn ich ein paar dieser unfähigen Narren ans Ufer schicke, um nach ihm zu suchen.« Diesmal hatte Andrej sich nicht mehr gut genug unter Kontrolle, um Abu Dun nicht sehen zu lassen, wie nahe er der Wahrheit gekommen war. Frederic war tatsächlich am Ufer zurückgeblieben und wartete auf ihn. Natürlich würde der junge sehen, das nicht er es war, der zurückkam, sondern Abu Duns Männer, aber das beruhigte Andrej nicht. Frederic war ein Kind, das dazu neigte, schreckliche Risiken einzugehen, wie es Kindern eigen ist. Und er vertraute viel zu sehr auf seine vermeintliche Unverwundbarkeit. Abu Dun lachte.
»Dann wirst du deinen jungen Freund ja bald wieder sehen«, sagte er. »Ihr werdet zusammen sterben.« Er wandte sich um.
»Lauf nicht weg«, sagte er höhnisch, während er hinausging.
2
Nachdem ihn der Pirat allein gelassen hatte, gestattete sich Andrej einen tiefen, lang andauernden Schmerzenslaut und ließ den Kopf zurücksinken. Seine Beine zuckten unkontrolliert. Das Leben kehrte mit Feuer und Gewalt in seine Glieder zurück. Er war schon oft verwundet worden, aber selten so schwer. Indem er sich zu entspannen versuchte und jeden Gedanken abschaltete, konnte er die Heilung beschleunigen. Auf diese Weise gab er seinem Körper Gelegenheit, seine ganze Energie auf das Regenerieren zerrissener Muskeln und zerbrochener Knochen zu richten. Aber dieser Vorgang brauchte Zeit. Wie lange würde Abu Dun brauchen, um seinen Männern Anweisung zu geben und zurückzukommen? Sicher nicht mehr als wenige Minuten. Aber diese Zeit mußte reichen. Sie reichte. Andrej versank in eine Art Trance, in der er zuerst jeden bewussten Gedanken, dann sein Zeitgefühl und schließlich sogar den Schmerz abschaltete. Sein Körper erholte sich in dieser Zeit, schöpfte Energie aus geheimnisvollen Quellen, deren Natur selbst Andrej nicht klar war, und kehrte in seinen unversehrten Zustand zurück. Als er Abu Duns Schritte draußen auf dem Gang hörte, öffnete er die Augen und lauschte noch einmal konzentriert in sich hinein. Er war bereit. Seine Verletzungen waren verheilt, aber er war noch sehr schwach. Die Heilung hatte ungewöhnlich viel Kraft gekostet. Er war auf keinen Fall in der Lage, einen zweiten Kampf mit Abu Dun durchzustehen. Der Pirat kam herein - zu Andrejs Erleichterung allein -, warf die Tür hinter sich zu und lachte böse, als er sah, das Andrej die Hand in Richtung des Schwertes ausgestreckt hatte, ohne es zu erreichen.