»Und du weißt davon?« In Abu Duns Stimme war wieder eine hörbare Spur von Misstrauen.
»Ich bin Zigeuner«, antwortete Vlad verächtlich.
»Verborgene Wege und Geheimgänge sind unsere Welt. Wie könnten wir sonst so gut vom Stehlen leben?« Andrej brachte ihn mit einem mahnenden Blick zum Verstummen. Vlad warf dem Piraten noch einen ärgerlichen Blick zu, drehte sich dann aber ohne ein weiteres Wort weg und begann sich suchend umzublicken. Nach nur wenigen Augenblicken ließ er sich vor einem Busch auf die Knie sinken und bog mit spitzen Fingern die mit langen Dornen besetzten Zweige zur Seite.
»Hier ist der Einstieg. Der Gang ist nicht sehr hoch. Ihr werdet kriechen müssen. Aber er führt direkt in den Keller der Burg.«
»Ihr?«, fragte Abu Dun mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich kann nicht mit euch kommen«, sagte Vlad kopfschüttelnd.
»Tepesch hat mir befohlen, in der Burg auf ihn zu warten. Ich muss vorsichtig sein. Er ist sowieso schon misstrauisch.«
»Wohin genau führt dieser Gang?«, erkundigte sich Andrej. Auch ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, nicht zu wissen, was auf sie wartete.
»In einen kleinen Raum, der schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzt wird«, antwortete Vlad.
»Wartet dort auf mich. Ich werde zu euch kommen, sobald es mir möglich ist.«
»In einer Woche oder zwei, vermute ich«, sagte Abu Dun. Vlad ignorierte ihn.
»Tepesch wird müde sein, wenn er zurückkommt. Menschen zu Tode zu quälen ist ein sehr anstrengendes Geschäft. Ich komme zu euch, sobald er eingeschlafen ist. Zu dem Geheimgang gehört eine verborgene Treppe, die direkt in sein Schlafgemach hinaufführt. Ich zeige sie euch. Und jetzt geht. Es wird bald hell.« Für Andrej und Abu Dun wurde es zuerst einmal dunkel. Und zwar vollkommen. Sie kletterten ein gutes Stück über uralte eiserne Griffstücke, die in den Fels getrieben worden waren, in eine absolute Finsternis hinab. Dann erreichten sie den Gang, von dem Vlad gesprochen hatte. Andrej kam schon bald zu dem Schluss, das Vlad zwar von diesem Gang gewusst, ihn aber wahrscheinlich niemals benutzt hatte. Er war so niedrig, das sie den größten Teil der Strecke kriechend zurücklegen mussten. Zweimal senkte sich die raue Decke so weit herab, das Andrej ernsthaft befürchtete, sie würden einfach stecken bleiben; eine grässliche Vorstellung, bei der sein Herz heftig zu schlagen begann. Abu Dun, der vorauskroch, fluchte fast ununterbrochen, sodass Andrej sich sorgte, die Wache oben auf den Mauern könne ihn hören. Als die drückende Enge endlich wich und der nasse, raue Fels in behauenen Stein überging, wurde es kein bisschen heller; trotzdem hatte Andrej das Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können. Die Luft war hier beinahe noch schlechter als in dem niedrigen Gang und sie stank zusätzlich nach Fäulnis und Moder, als wäre etwas - oder jemand - hier drinnen gestorben. Abu Dun stolperte eine Weile lautstark durch die Dunkelheit, wobei er ununterbrochen irgendetwas umzustoßen und zu zerbrechen schien. Dann knurrte er:
»Die Tür ist verschlossen. Von außen.«
»Was hast du erwartet?« Andrej ließ sich mit untergeschlagenen Beinen nieder und lehnte Rücken und Hinterkopf gegen den kalten Stein. Etwas Kleines mit vielen Beinen huschte über sein Gesicht und er wischte es angeekelt fort.
»Nichts«, murrte Abu Dun. Andrej konnte hören, das er sich ebenfalls setzte.
»Wahrscheinlich sollte ich froh sein, das es überhaupt eine Tür gibt.«
»Du traust Vlad immer noch nicht.«
»Warum sollte ich?«
»Bisher hat er stets Wort gehalten«, erinnerte Andrej ihn.
»Ohne ihn wären wir wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben. Zumindest nicht in Freiheit.«
»Das ist es ja gerade«, antwortete Abu Dun.
»Ich misstraue Leuten, die mir etwas schenken.« Es erschien Andrej viel zu mühsam, diesem Gedanken zu folgen. Er war müde. Wie lange war es her, das er das letzte Mal geschlafen hatte? Er schlief ein. Als er wieder erwachte - mit leichten Kopfschmerzen, einem schlechten Geschmack im Mund und einem Gefühl wie Blei in den Gliedern -, spürte er, das lange Zeit vergangen war. Er war nicht von selbst erwacht, sondern vom Poltern eines schweren Riegels hochgeschreckt worden. Noch bevor die Tür geöffnet wurde und flackerndes Licht hereinfiel, glitt seine Hand dorthin, wo er normalerweise das Schwert getragen hätte. Das rote Licht einer Fackel ließ ihn blinzeln. Vlad trat durch die Tür. Er kam nicht ganz herein, sondern ließ das rechte Bein und den Arm, der die Fackel hielt, draußen auf dem Gang. Mit der anderen Hand gestikulierte er unwirsch in ihre Richtung.
»Kommt«, sagte er.
»Schnell. Wir müssen uns beeilen.« Andrej und Abu Dun standen gehorsam auf, aber Andrej mußte einen hastigen Schritt zur Seite machen, um seine Balance zu halten. Er war so benommen, als hätte er Ewigkeiten geschlafen.
»Warum so eilig?«, fragte Abu Dun.
»Bis jetzt hattest du doch auch Zeit.«
»Vor allem nicht so laut«, sagte Vlad.
»Man könnte uns hören.« Abu Dun zog eine Grimasse.
»Wer? Ich denke, es kommt nie jemand hier herunter?«
»Tepesch ist zurück«, antwortete Vlad.
»Es sind eine Menge Gäste auf der Burg. Nicht alle sind freiwillig hier. Die Kerker quellen über. Es könnte sein, das dieser Raum gebraucht wird. Folgt mir. Und keinen Laut!« Er gab ihnen auch gar keine Gelegenheit, noch eine weitere Frage zu stellen, sondern trat rasch wieder auf den Gang hinaus und entfernte sich. Andrej und Abu Dun mussten ihm folgen, wollten sie nicht in der Dunkelheit zurückbleiben. So weit es die tanzenden Schatten und das flackernde, rote Licht zuließen, sahen sie sich neugierig um. Sehr viel gab es allerdings nicht zu entdecken. Der Gang war schmal und aus Felssteinen zusammengefügt. Die gewölbte Decke war so niedrig, das Vlads Fackel schwarze Rußspuren darauf hinterließ. Zwei weitere Türen zweigten davon ab, beide äußerst massiv, aber geschlossen, sodass sie nicht sehen konnten, was dahinter lag. Vlad blieb stehen, als sie die Treppe erreichten, und winkte mit seiner Fackel.
»Dort oben liegen die Kerker«, sagte er.
»Als ich gekommen bin, war keine Wache da, aber man kann nie wissen. Seid vorsichtig.« Sie gingen die Treppe hinauf, eine eng gewendelte, steinerne Schnecke, die sicher sechs oder sieben Meter weit nach oben führte, ehe sie in einen weiteren, aber ungleich größeren Kellerraum mündete. Der Keller ähnelte dem Sklavenquartier auf Abu Duns Schiff: Es war ein einziger, großer Raum, der von deckenhohen Gitterstäben in zahlreiche, kleine Käfige unterteilt wurde, zwischen denen nur ein schmaler Gang hindurchführte. In jedem dieser Käfige befanden sich mindestens zwei Gefangene, ausnahmslos türkische Krieger. Viele waren verletzt, ohne das sich jemand die Mühe gemacht hätte, ihre Wunden zu verbinden. Ein furchtbarer Gestank hing in der Luft, Stöhnen, Murmeln, auch etwas wie ein leises Schluchzen. Einige der Gefangenen schienen zu beten und nicht wenige sahen hoch und blickten in ihre Richtung, aber niemand sprach sie an. Vlad griff plötzlich nach Abu Duns Arm und stieß ihn so grob vor sich her, das er um ein Haar gestürzt wäre. Der Pirat spannte sich und Andrej hielt erschrocken die Luft an, als er sah, wie sich sein Gesicht vor Hass verzerrte, aber dann entdeckten sie den Posten, der auf einen Speer gestützt vor der Tür am anderen Ende des Ganges stand und neugierig in ihre Richtung sah.
»Beweg’ dich, Heide!«, herrschte Vlad ihn an.
»Und hab keine Angst. Diese Verliese sind nicht für dich. Mit dir habe ich etwas ganz Besonderes vor.« Abu Dun machte eine Bewegung, wie um sich zu widersetzen, und Andrej trat rasch an Vlads Seite und nahm eine drohende Haltung an. Der Posten am Ende des Ganges blickte jetzt sehr aufmerksam in ihre Richtung.
»Gib auf ihn Acht«, sagte Vlad, in seine Richtung gewandt.