»Er darf nicht verletzt werden. Wir wollen uns doch den besten Spaß nicht verderben.« Er machte eine drohende Bewegung mit der Fackel in Abu Duns Richtung. Hätte der Pirat nicht rasch den Kopf zur Seite gedreht, hätten die Flammen zweifellos sein Gesicht versengt. Abu Dun starrte Vlad noch einen Herzschlag lang wütend an, dann fuhr er herum und setzte sich in Bewegung. Andrej atmete auf, aber ihm war auch klar, das die Gefahr noch nicht vorüber war. Der Wächter hatte Vlad eindeutig erkannt und sah ihm respektvoll entgegen. Andrej hoffte, das er sich nicht fragte, warum sein Begleiter eigentlich keine Waffe trug und ihr riesenhaft gebauter Gefangener nicht einmal gefesselt war. Sie kamen an einem Gitterkäfig vorbei, der weitaus größer als die anderen Verschläge war. Es befanden sich keine Gefangenen darin, aber er enthielt eine Streckbank, Becken mit erkalteten Kohlen und noch zahlreiche andere Folterwerkzeuge. Es war nicht die erste Folterkammer, die Andrej sah, wohl aber das erste Mal, das er einen solchen Raum inmitten der Gefangenenquartiere erblickte. Tepesch wollte, das die Gefangenen sahen, was hier getan wurde, um sich noch zusätzlich an ihrer Angst weiden zu können. Seine Sorge, was den Wächter anging, erwies sich als unbegründet. Der Mann sah sie zwar sehr aufmerksam und aus wachen Augen an, trat aber gehorsam zur Seite, als Vlad eine befehlende Geste machte. Sie traten aus dem Verlies in einen weiteren Gang, der nach zwanzig Schritten vor einer steilen Treppe endete. An ihrem oberen Ende schimmerte blasses Licht. Andrej erwartete, das Vlad unverzüglich die Treppe ansteuern würde oder vielleicht auch die Türen, die rechts und links abzweigten, doch stattdessen blieb er stehen und sagte laut:
»Wache!« Der Mann, an dem sie gerade vorbeigegangen waren, folgte ihnen. Er wollte eine Frage stellen, aber Vlad kam ihm zuvor. »Halt das«, sagte er und hielt ihm die Fackel hin. Der Mann griff gehorsam zu und Vlad zog mit einer fast gemächlichen Bewegung einen Dolch aus dem Gürtel und schnitt ihm die Kehle durch.
»Allah!«, entfuhr es Abu Dun.
»Warum hast du das getan?« Die Wache sank röchelnd gegen die Wand, ließ die Fackel fallen und schlug beide Hände gegen den Hals. Vlad fing die Fackel auf, sah aber zu, wie der sterbende Mann in die Knie brach und dann zur Seite kippte.
»Aber ... warum?«, fragte nun auch Andrej. Statt zu antworten, drehte sich Vlad zu Abu Dun herum und hielt ihm die Fackel hin. »Halt das.« Abu Dun riss die Augen auf. Er rührte keinen Finger, um nach der Fackel zu greifen, und nach einem Moment drehte sich Vlad herum und hielt Andrej die Fackel entgegen. Andrej nahm sie entgegen und Vlad bückte sich, griff unter die Arme des Toten und schleifte ihn in den Keller zurück. Er legte ihn so neben der Tür ab, das er nicht sofort zu sehen war, wenn jemand hereinkam, und nahm ihm das Schwert ab. Als er zurückkam, tauschte er die Waffe gegen die Fackel, die Andrej in der Hand hielt.
»Ich habe dich gefragt, warum du das getan hast!«, herrschte Andrej ihn an. Er hielt das Schwert noch in der Hand.
»Das war unnötig.«
»Nein, das war es nicht«, antwortete Vlad.
»Helft mir!« Er trat an die Wand heran, tastete einen Moment mit spitzen Fingern darüber und winkte dann auffordernd. Sie stemmten sich zu dritt gegen die Wand. Andrej spürte ein Zittern, dann hörten sie das Scharren von Stein auf Stein und ein schmaler Teil der Wand drehte sich um seine Mittelachse und gab einen Spalt frei, durch den sich ein breit gebauter Mann wie Abu Dun nur mit Mühe hindurchzwängen konnte. Vlad leuchtete mit der Fackel hinein und sie erkannten eine schmale Wendeltreppe, die steil nach oben führte. Der geheime Weg in Tepeschs Schlafgemach.
»Er hätte uns aufgehalten«, sagte Vlad, obwohl eine Erklärung mittlerweile fast überflüssig war. Andrej steckte das Schwert ein und trat als Erster durch den Spalt. Die Luft dort war so trocken, das sie zum Husten reizte. Sie roch alt und auf den steinernen Stufen lag eine mindestens fünf Zentimeter dicke Staubschicht. Hier war seit einem Menschenalter niemand mehr gewesen. Vlad und Abu Dun folgten Andrej und schlossen die Tür. Die Fackel begann zu flackern. Trotz der schlechten Luft wirkte der Treppenschacht wie ein Kamin. Es war kalt.
»Draculs Schlafgemach liegt oben«, sagte Vlad.
»Die Treppe führt direkt dorthin. Wenn wir angekommen sind, muss alles sehr schnell gehen. Wenn er auch nur einen Schrei ausstoßen kann, ist es vorbei.«
»Wachen?«, fragte Abu Dun. Vlad schüttelte den Kopf.
»Dracul traut niemandem. Er würde keinen Mann mit einer Waffe in seiner Nähe dulden, solange er schläft. Mit Ausnahme deiner Brüder. Die beiden Vampyre.«
»Sie sind nicht meine Brüder«, sagte Andrej scharf.
»Nenn sie, wie du willst«, sagte Vlad gleichmütig.
»Ihr Zimmer liegt jedenfalls auf dem gleichen Flur. Wenn Tepesch um Hilfe schreit ...« Er hob die Schultern.
»Du hast selbst gesagt, das du ihnen an Stärke nicht ebenbürtig bist.«
»Nicht beiden zugleich«, berichtigte Andrej.
»Ein Grund mehr, schnell zu sein. Wir gehen hinein, du tötest ihn und wir gehen wieder hinaus.«
»Wenn es so einfach ist«, fragte Abu Dun, »warum hast du es dann nicht schon längst selbst getan?«
»Wir fliehen auf demselben Weg«, fuhr Vlad mit einem Blick in Abu Duns Richtung, aber ohne ihm zu antworten, fort.
»Falls sie den toten Wachmann bis dahin nicht gefunden haben.«
»Kaum«, antwortete Vlad. »Die Wachablösung ist gerade erst vorbei. Niemand kommt freiwillig dort hinunter.« Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Fackel. »Kommt jetzt!«
»Nicht so schnell«, sagte Abu Dun. »Die Gefangenen.«
»Unmöglich!«, sagte Vlad erschrocken.
»Es sind mehr als zweihundert! Du bräuchtest einen Tag, um sie durch den Geheimgang nach draußen zu schaffen. Und durch das Tor geht es nicht. Im Hof der Burg lagern über hundert bewaffnete Krieger.« Er zögerte einen Moment und fügte dann in schärferem Ton hinzu:
»Wir sind nicht hierher gekommen, um deine Landsleute zu befreien, Muselman! Sie sind immer noch unsere Feinde.«.
»Du ...«
»Er hat Recht, Abu Dun«, sagte Andrej rasch.
»Aber ihnen wird nichts geschehen. Wenn Tepesch tot ist, werden sie als Kriegsgefangene behandelt ... das ist doch so, Vlad? Oder?« Vlad nickte ein wenig zu schnell. Sie gingen weiter. Die Treppe endete vor einer schmalen, hölzernen Tür. Vlad bedeutete ihnen, still zu sein. Er wies auf ein schmales Guckloch, das in der Tür darin angebracht war. Andrej ließ sich auf die Knie sinken und spähte hindurch. Dahinter lag ein unerwartet geräumiges, nur von einigen Kerzen erhelltes Zimmer.
»Sein Bett liegt auf der rechten Seite, gleich neben der Tür«, flüsterte Vlad.
»Wenn du schnell genug bist, wird er nicht einmal spüren, was geschieht.« Andrej zog sein Schwert aus dem Gürtel.
»Frederic?«, flüsterte er.
»Er schläft im Nebenzimmer.« Vlad klang ungeduldig.
»Sobald alles vorüber ist, können wir ihn holen.«
»Ich werde Tepesch nicht im Schlaf erschlagen, Vlad«, sagte Andrej. »Ich töte ihn, aber auf meine Weise. Ich bin kein Mörder.«
»Du Narr!«, zischte Vlad.
»Willst du uns alle ...« Andrej hörte nicht mehr zu. Er machte sich nicht die Mühe, nach dem Griff oder irgendeinem verborgenen Öffnungsmechanismus zu suchen, sondern sprengte die Tür mit der Schulter auf und stürmte in den Raum. Nur ein Stück neben der Tür, die von dieser Seite aus nicht zu sehen, sondern Teil einer hölzernen Wandtäfelung war, stand ein übergroßes Bett mit einem gewaltigen, reich verzierten Baldachin und geschnitzten Säulen. Tepesch lag darin, aber er schlief keineswegs, wie Vlad behauptet hatte, sondern saß gemütlich an zwei große seidene Kissen gelehnt und hielt einen goldenen Trinkbecher in der Hand. Er wirkte kein bisschen überrascht.
»Das hat aber gedauert«, sagte er stirnrunzelnd.
»Ich fing schon an zu befürchten, du hättest es dir anders überlegt.« Andrej war verwirrt. Tepesch hatte ihn erwartet. Er hatte seinen bizarren Helm abgesetzt und neben sich aufs Bett gelegt, trug aber ansonsten noch immer seine Rüstung, bis hin zu den dornenbesetzten Handschuhen.