Die Wunde in seinem Arm verheilte bereits. Trotzdem war es ein weiterer, wenn auch vielleicht nur winziger Vorteil für Körber. Aber der Unsterbliche verzichtete darauf, ihn auszunutzen. Er trat ganz im Gegenteil zurück, senkte seine Waffe und wartete, bis sich der tiefe Schnitt in Andrejs Arm geschlossen hatte. Dann nickte er und machte eine auffordernde Geste. Es dauerte einen Moment, bis Andrej ihre Bedeutung begriff. Körber wollte, das er das Schwert wieder in die Rechte wechselte. Der Vampyr hatte seine Fähigkeiten bisher nur getestet und war sich nun seiner Überlegenheit sicher. Er spielte mit ihm. Der Gedanke versetzte Andrej in schiere Raserei. Er mußte er sich mit aller Gewalt beherrschen, um sich nicht einfach auf Körber zu werfen, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Wenn er überhaupt eine Chance hatte, diesen uralten, so unendlich viel erfahreneren Krieger zu besiegen, dann nur, wenn er die Nerven behielt und auf eine Schwäche in seiner Verteidigung oder eine Unaufmerksamkeit hoffte. Körber offerierte ihm weder das eine noch das andere. Er griff wieder an, beschränkte sich aber diesmal auf wenige, blitzartige Attacken, die Andrej zu einem weiteren, hektischen Rückzug zwangen, ihn aber nicht ernsthaft in Gefahr brachten. Andrej wich weiter vor ihm zurück, brachte mit Glück selbst einen Treffer an und sah voller kalten Entsetzens, das sich die Wunde wieder schloss, noch bevor Körber ganz zurückgesprungen war. Körber konterte mit einer doppelten, blitzartig geführten Schlagkombination gegen seinen Kopf und seine Schultern, die Andrej zwar abfangen konnte, ohne verletzt zu werden, die aber neue Wellen von dumpf pulsierendem Schmerz durch seinen Arm und die Schultermuskeln sandte. Es fiel ihm immer schwerer, das Schwert zu heben. Seine Kräfte erlahmten jetzt rasch, während Körber auf unheimliche Weise beinahe Kraft aus jedem wuchtigen Hieb zu gewinnen schien, den er nach ihm führte.
Der Vampyr zermürbte ihn, langsam und gnadenlos, aber unaufhaltsam. Der Moment war abzusehen, in dem einer seiner mörderischen Schläge sein Ziel treffen würde. Er kam schneller, als er gefürchtet hatte. Körber täuschte einen weiteren Angriff vor und Andrej wich zurück, um ihn in eine Falle stolpern zu lassen. Statt seinen Angriff im allerletzten Moment abzubrechen, um Andrejs Parade ins Leere gehen zu lassen und ihn somit zum Opfer seiner eigenen Bewegung zu machen - womit Andrej gerechnet hatte -, verdoppelte Körber seine Wucht noch. Andrej, der bereits in einer fließenden Rückzugsbewegung begriffen war, hatte keine Chance. Er wurde gegen die Wand geworfen. Körbers Schwertknauf traf seine Waffenhand und brach sie, sodass er das Schwert fallen ließ. Die gepanzerte linke Hand des Ritters kam hoch, krachte unter sein Kinn und schmetterte seinen Hinterkopf mit solcher Wucht gegen die Wand, das ihm übel wurde. Das war das Ende. Seine Beine gaben nach. Hilflos sank er in die Knie. Körber ließ los, stieß Andrejs Schwert mit einem Fußtritt beiseite und versetzte ihm aus der gleichen Bewegung heraus einen fürchterlichen Tritt in die Rippen, der ihm endgültig den Atem nahm.
Dann warf er sich auf ihn. Körbers Knie krachten in Andrejs ohnehin gebrochene Rippen und verstärkten den Schmerz. Seine Zähne gruben sich in Andrejs Kehle, rissen sein Fleisch auf und suchten nach seiner Halsschlagader. Andrej bäumte sich auf und versuchte mit verzweifelter Anstrengung, den Vampyr von sich herunterzustoßen, aber seine Kraft reichte nicht aus. Körbers Zähne zerfetzten seinen Hals und Andrej spürte, wie sein Blut und noch etwas anderes, Unsichtbares, Verborgenes aus ihm herausgerissen wurde. Für einen zeitlosen, durch und durch grauenhaften Moment hatte er das Gefühl, nicht mehr in seinem eigenen Körper zu sein, sondern durch eine schwarze Unendlichkeit geschleudert zu werden, die von den Schreien tausend gepeinigter Seelen erfüllt war, dann griff eine unsichtbare, grausam starke Hand nach ihm und zerrte ihn zurück, aber nicht in seinen eigenen Körper, sondern ... Körber bäumte sich auf. Seine Lippen waren plötzlich nicht mehr an Andrejs Kehle. Er wankte, kippte zur Seite und stieß einen sonderbaren, gurgelnden Schrei aus, während er seine Hände gegen den Hals schlug. Zwischen seinen Fingern ragte die blutige Spitze eines Dolches hervor, den ihm Vlad in den Nacken gestoßen hatte. Andrej wollte sich aufrichten. Er mußte es. Vlads Eingreifen hatte ihm eine winzige Gnadenfrist verschafft, aber mehr nicht. Nicht einmal diese furchtbare Verletzung würde Körber töten. Er hatte gesehen, wie unvorstellbar schnell sich der Vampyr von Verletzungen erholte. Aber auch er war verwundet und Körber hatte ihm mehr gestohlen als ein wenig Blut. Er war schwach, unglaublich schwach. Körber versuchte, mit den Händen in seinen Nacken zu greifen, um den Dolch herauszuziehen, aber Vlad nahm ihm die Arbeit ab: Er riss den Dolch heraus, stieß Körber die Waffe zwischen die Schulterblätter und warf den Vampyr zu Boden. Dann war er mit einem Sprung über Andrej und zerrte ihn hoch. Andrej wußte nicht, was er vorhatte. Er versuchte ganz instinktiv, sich zu wehren, aber seine Kraft reichte nicht einmal aus, um diesen normalen Sterblichen davonzustoßen. Vlad zerrte ihn herum, warf ihn über Körber und presste sein Gesicht auf Körbers Hals.
»Trink!«, befahl er.
»Trink oder du stirbst! Willst du das?!« Andrej versuchte mit aller Gewalt, sich zu wehren; nicht nur gegen Vlads Griff, sondern viel mehr gegen die dunkle Gier, die in ihm erwachte, kaum das der erste Blutstropfen seine Lippen benetzt hatte. Es gelang ihm nicht. Vlads Griff war erbarmungslos und die Gier explodierte zu einem lodernden Höllenfeuer, das seinen Willen einfach beiseite fegte. Warmes, nach bitterem Kupfer schmeckendes Blut füllte seinen Mund, und dann war da noch etwas anderes. Es war nicht wie damals bei Malthus. Es war nicht wie gerade bei ihm. Körber war da, aber er mußte ihn nicht aus seinem Leib herausreißen, das Wesen des Vampyrs stürmte heran, seine Erinnerungen, seine Gedanken, seine Seele und all seine dunklen Gelüste und Wünsche, jede Sekunde seines schon Jahrhunderte währenden Lebens, eine schwarze Flamme, die sich in seine Seele brannte und alles, was Andrej einmal gewesen war, auszulöschen drohte. Er hatte geglaubt, Malthus zu überwinden wäre schwer gewesen, aber Körber war unendlich viel älter und tausendmal stärker. Der Geist des Vampyrs bedrängte ihn ebenso unerbittlich, wie es sein Körper gerade getan hatte. Der Kampf war nicht minder hart und er dauerte länger. Andrej verlor sein Zeitgefühl. Irgendwann spürte er, wie Körbers Leib unter ihm erschlaffte und das körperliche Leben aus ihm wich. Sein Körper war tot, aber der Geist des Vampyrs existierte weiter und nun begann das Ringen um den Besitz des einzigen Leibes, den sie noch hatten. Andrej schrie. Er krümmte sich am Boden, schlug mit Armen und Beinen um sich. Die Transformation fand statt, aber für lange, lange Zeit war nicht abzusehen, wer wen in sich aufsog. Und schließlich war es vorbei. Körbers Geist bäumte sich noch einmal auf - und verging. Die schwarze Flamme erlosch und zurück blieb nur eine gewaltige saugende Leere, in die Andrej hineinzustürzen drohte. Aber zugleich fühlte er sich auch von einer neuen, nie gekannten Kraft durchströmt. Körber war vergangen, aber trotzdem noch da, tief in ihm, zu einem Teil von ihm selbst geworden. Langsam richtete Andrej sich auf und hob die Hände vors Gesicht, um sie zu betrachten. Er wäre nicht erstaunt gewesen, statt seiner eigenen schlanken Finger nun die viel kräftigeren, plumpen Hände Körbers zu sehen. Aber sie hatten sich nicht verändert. Neben ihm erscholl ein ungläubiger Laut. Andrej wandte den Kopf, sah in Vlads Gesicht und begriff, das der Ausdruck puren Entsetzens in den Augen des Roma nicht ihm galt. Er sah in dieselbe Richtung. Körber ...
... verfiel.
Die Wunde in seinem Hals hatte sich wieder geschlossen, als erinnere sich sein Körper selbst nach seinem Tod noch an die unheimlichen Fähigkeiten, die er einst besessen hatte, aber seine Haut begann zu vergilben. Sie wurde trocken, bekam Risse und sank ein, als sich auch das darunter liegende Fleisch aufzulösen begann. Andrej war entsetzt, aber auch verwirrt. Als Malthus gestorben war, war das nicht geschehen.