»Großer Gott!«, flüsterte Vlad erschüttert.
»Er muss Jahrhunderte alt gewesen sein.« Vlad sah Andrej durchdringend an - und dann bückte er sich blitzschnell nach dem Schwert, das Körber fallen gelassen hatte. Noch bevor Andrej wirklich begriff, was er tat, hatte er die Waffe aufgehoben und setzte ihre Spitze auf Andrejs Herz.
»Was ... tust du?«, fragte Andrej verwirrt.
»Ich schneide dir das Herz aus dem Leib, wenn du auch nur mit der Wimper zuckst«, antwortete Vlad drohend.
»Vergangene Nacht. Wo seid ihr gewesen? Wo habt ihr euch versteckt?«
»In einer Ruine«, antwortete Andrej verständnislos.
»Das weißt du doch!«
»Wo genau?« Der Druck der Schwertspitze auf sein Herz verstärkte sich.
»Schnell!« Andrej warf einen Blick in Abu Duns Richtung. Der Pirat stand breitbeinig über Tepesch, der reglos und mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden lag. Abu Dun hatte ihn mit seinem eigenen Morgenstern niedergeschlagen. Er hielt die Waffe in der linken Hand und sah Andrej aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. Nicht sehr freundlich.
»Also gut«, sagte Andrej.
»In einer alten Mühle. Im Keller. Abu Dun ist die Treppe hinuntergefallen. Was zum Teufel soll das?« Die beiden letzten Worte hatte er fast geschrien. Weder Vlad noch Abu Dun zeigten sich davon sonderlich beeindruckt. Das Schwert blieb auf seinem Herzen.
»Auf meinem Schiff«, sagte Abu Dun.
»Ich habe dich kampfunfähig gemacht. Wie?«
»Mein Rücken«, antwortete Andrej.
»Du hast mir das Kreuz gebrochen.« Abu Dun nickte fast unmerklich in Vlads Richtung. Der Roma trat zurück, senkte das Schwert und atmete hörbar erleichtert auf.
»Darf ich jetzt aufstehen, oder werde ich geköpft?«, fragte Andrej böse.
»Verzeih«, sagte Vlad.
»Aber wir mussten sicher gehen, das du auch wirklich du bist.« Er lächelte nervös.
»Ich glaube, du bist es.«
»Ich hoffe es wenigstens.« Andrej stand auf.
»Eine Weile war ich nicht sicher, ob ich ihn überwinden kann. Er war furchtbar stark.« Schaudernd sah er noch einmal auf Körbers Leiche hinab - oder auf das, was davon noch übrig war; wenig mehr als ein Skelett, an dem noch einige pergamenttrockene Hautfetzen hingen.
»Wie hast du das gemeint: Er muss Jahrhunderte alt gewesen sein?«, fragte er.
»Die Natur hat sich zurückgeholt, was schwarze Magie ihr Jahrhunderte lang vorenthalten hat«, antwortete Vlad. Andrej spürte, das das die Wahrheit war. Körber war einfach gealtert; in wenigen Sekunden um die ungezählten Jahre, die er der Natur zuvor abgetrotzt hatte. Malthus mußte wesentlich jünger gewesen sein, ein Vampyr zwar, der aber trotzdem erst eine normale menschliche Lebensspanne hinter sich hatte. Er hob sein Schwert auf und schob es in den Gürtel, bevor er sich zu Vlad herumdrehte.
»Du weißt eine Menge über ...« Vampyre? Dämonen?
»... mich.« Vlad lächelte auf eine sonderbar wissende Art.
»Ich sagte dir: Ich kenne all die alten Legenden. Aber ich habe etwas Derartiges noch nie mit eigenen Augen gesehen.«
»Und?«, fragte Andrej.
»Habe ich den Test bestanden?«
»Die Legenden erzählen auch von Unsterblichen, die nicht böse sind«, fuhr Vlad unbeeindruckt fort.
»Woher sollte ich wissen, zu welcher Art du gehörst?« Andrej hätte viel dazu sagen können, aber er tat es nicht. Er ging zu Tepesch, drehte ihn auf den Rücken und schlug ihm zwei-, dreimal mit der flachen Hand ins Gesicht, bis der Drachenritter stöhnend die Augen öffnete. Abu Dun ließ den Morgenstern fallen, zerrte Tepesch hoch und drehte ihm den Arm auf den Rücken; aber nicht, ohne ihn vorher der schrecklichen Dornenhandschuhe beraubt zu haben. Tepesch keuchte vor Schmerz, aber der einzige Ausdruck, den Andrej in seinen Augen las, war purer Hass.
»Ihr kommt nicht davon«, sagte er gepresst.
»Ihr werdet alle sterben. Ich werde mir für euch eine ganz besondere ...« Er brach mit einem Schrei ab, als Abu Dun seinen Arm noch weiter verdrehte.
»Frederic!«, herrschte Andrej ihn an.
»Wo ist er?«
»Von mir erfahrt ihr nichts!«, antwortete Tepesch.
»Das ist nicht notwendig«, sagte Vlad.
»Ich kann euch hinführen.«
»Hast du Mitleid mit ihm?«, fragte Abu Dun.
»Nein. Aber wir haben keine Zeit. Töte ihn meinetwegen, aber tu es schnell.« Er machte eine entsprechende Kopfbewegung.
»Der junge muss in einem der benachbarten Zimmer sein. Alle seine Gäste sind hier oben untergebracht.«
»Fessele ihn.« Andrej gab Abu Dun einen Wink. Der Pirat hielt Tepesch ohne Mühe mit nur einer Hand fest und riss mit der anderen einen Stoffstreifen aus Draculs Bettwäsche, mit dem er seine Handgelenke auf dem Rücken zusammenband. Tepeschs Gesicht war grau vor Schmerz, aber er verbiss sich jeden Laut. Mit einem zweiten, etwas kürzeren Streifen knebelte Abu Dun ihn, dann versetzte er ihm einen Stoß, der ihn nach vorne stolpern und auf die Knie fallen ließ.
»Warum tötest du ihn nicht?«, fragte Vlad.
»Sind wir nicht deshalb hergekommen?«
»Später«, antwortete Andrej.
»Erst holen wir Frederic.« Vlad sah nicht überzeugt aus, aber er beließ es bei einem ärgerlichen Blick, packte Dracul bei den gefesselten Händen und stieß ihn grob vor sich her zur Tür. Abu Dun blieb, wo er war. Vlad und sein Gefangener hatten die Tür erreicht. Während er Tepesch grob gegen die Wand presste, zog er mit der linken Hand den Riegel zurück und öffnete die Tür. Draußen lag ein schmaler, nur von einer einzelnen Fackel erhellter Gang. Er war menschenleer. Andrej war erstaunt, aber auch alarmiert. Der Kampf zwischen Körber und ihm war alles andere als leise gewesen. Die Wände waren zwar sehr dick, aber die Schreie und das Klirren des aufeinander prallenden Stahls mussten selbst unten auf dem Burghof noch deutlich zu hören gewesen sein.
»Die zweite Tür«, flüsterte Vlad. Andrej nickte nur, sah sich noch einmal um, machte einen weiteren Schritt und blieb abermals stehen, um sich diesmal ganz herumzudrehen.
»Was ist los?«, fragte Vlad beunruhigt. Statt zu antworten, machte Andrej nur eine Kopfbewegung in das Zimmer hinter sich. Es war leer. Abu Dun war verschwunden..
»Dieser Narr!«, zischte Vlad.
»Er wird sich und alle, die er befreien will, umbringen! Draußen wimmelt es von Soldaten!« Andrej befürchtete, das er Recht hatte. Nach dem, was er unten im Kerker gesehen hatte, konnte er Abu Dun durchaus verstehen. Aber es blieb Wahnsinn. Selbst wenn es ihm gelang, gute zweihundert Mann von denen noch dazu etliche schwer verwundet waren - durch den Geheimgang aus der Burg zu schaffen ... wohin sollte er sie bringen? Tepeschs Soldaten machten gnadenlos Jagd auf jedes dunkle Gesicht, das sie sahen, und das nächste osmanische Heer war weit weg.
»Er wird es schon schaffen«, sagte er. Es war vollkommen sinnlos, Abu Dun zu folgen. Selbst wenn er ihn eingeholt hätte, wäre es vermutlich unmöglich, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Andrej war mittlerweile sicher, das der Pirat den Plan im gleichen Moment gefasst hatte, in dem er Draculs Folterkeller das erste Mal betreten hatte.
»Zuversicht.« Vlad schürzte die Lippen.
»Davon könnten wir auch ein wenig gebrauchen, scheint mir.« Vlad schob Tepesch wie ein lebendes Schutzschild vor sich her, wobei er ihn mit einem Dolch antrieb, dessen Spitze er durch einen schmalen Spalt in seiner Panzerung geschoben hatte. Andrej hoffte, das Vlad nicht ein wenig zu fest zustieß. Er war immer noch nicht bereit, einen Menschen kaltblütig zu ermorden, nicht einmal ein solches Monster wie Dracul. Es mochte durchaus sein, das sie ihn noch brauchten, wollten sie lebend hier herauskommen. Sie erreichten die Tür, die Vlad bezeichnet hatte. Andrej drehte sich noch einmal um und lauschte. Er hörte nichts und er sah nichts. Sie waren allein. Aber es roch geradezu nach einer Falle. Andrej schob seine Bedenken beiseite, öffnete die Tür und erkannte, das er Recht gehabt hatte. Frederic saß auf einem niedrigen Stuhl unter dem Fenster und sah ihn aus starren Augen an. Seine Arme und Beine waren an die Lehnen gefesselt und er trug einen Knebel im Mund, der ihn wahrscheinlich nur daran hindern sollte, Andrej eine Warnung zuzurufen. Biehler, der letzte der drei Unsterblichen, die in Vater Domenicus’ Dienst gestanden hatten, stand hoch aufgerichtet hinter ihm, und Vater Domenicus selbst saß in einem hochlehnigen Sessel und funkelte Andrej zornig an. Auch er war gefesselt: Ein grober Strick um seine Taille verhinderte, das er aus dem Stuhl fiel. Die Verletzung, die Frederic ihm in Constäntä zugefügt hatte, hatte ihn gezeichnet. Es erschien Andrej wie ein Wunder, das er überhaupt noch lebte. Im Raum waren außer ihnen acht Armbrustschützen, die mit ihren Waffen auf Andrej zielten. Vielleicht hätte er es trotzdem riskiert, sich zurückzuwerfen und eine Flucht zu versuchen, selbst auf die Gefahr hin, von einigen der Geschosse getroffen zu werden. Doch in diesem Moment traten Vlad und Tepesch hinter ihm ein. Andrej stolperte einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Einer der Armbrustschützen verlor die Nerven und feuerte seine Waffe ab, ohne jedoch zu treffen. Der Bolzen fuhr mit einem dumpfen Laut unmittelbar neben Andrejs Schulter in den Türrahmen, doch Vater Domenicus riss die Hand in die Höhe und dröhnte scharf: