»Ich bin neugierig darauf, wie viel deinen Leuten dein Leben wert ist.« Abu Dun schürzte verächtlich die Lippen, stand aber dann gehorsam auf. Jedenfalls versuchte er es. Anscheinend hatte er noch gar nicht bemerkt, das auch seine Füße gefesselt waren, denn er fiel mit einem überraschten Laut auf die Knie und wäre um ein Haar ganz nach vorne gestürzt. Als er versuchte, sein Gleichgewicht zurückzuerlangen, schnürte sich der Strick erneut enger um seinen Hals. Er hustete qualvoll. Andrej wartete, bis er sich wieder beruhigt und umständlich in die Höhe gearbeitet hatte, dann öffnete er vorsichtig die Tür, trat einen Schritt zur Seite und machte eine wedelnde Bewegung mit dem Dolch.
»Warum sollte ich tun, was du von mir verlangst?«, fragte Abu Dun trotzig.
»Du tötest mich doch sowieso.«
»Möglicherweise«, antwortete Andrej kalt.
»Die Frage ist nur, ob ich auch deine Seele fresse.« Abu Dun lachte. Aber es klang unecht und in seinen Augen loderte die Furcht höher. Er widersprach nicht mehr, sondern senkte den Kopf, um durch die niedrige Tür zu treten. Andrej folgte ihm, wobei er die Spitze des Dolches zwischen seine Schulterblätter drückte.
»Du solltest dafür sorgen, das deine Männer nicht zu sehr erschrecken, wenn sie uns sehen«, sagte Andrej. Zumindest der Gang, in den sie traten, war leer, aber durch die offen stehende Luke am oberen Ende der Treppe drangen aufgeregte Stimmen und Lärm. Die gesamte Besatzung des Sklavenseglers war nun wach und auf den Beinen. Es war ein irrsinniges Risiko, jetzt dort hinauf zu gehen, aber er hatte keine andere Wahl. Abu Dun arbeitete sich mit ungeschickten kleinen Schritten zum Anfang der Treppe vor, blieb stehen und rief einige Worte in seiner Muttersprache. Von oben antwortete eine Stimme, dann erschien ein Schatten in dem grauen Rechteck und ein überraschter Laut erscholl. Der Schatten verschwand und für einen kurzen Moment brach oben auf dem Deck Tumult los. Dann rief Abu Dun wieder etwas in seiner Muttersprache, und nach einigen Augenblicken erschien die Gestalt erneut in der Öffnung.
»Sie werden dich in Stücke schneiden, Narr«, sagte Abu Dun.
»Auf mich werden sie keine Rücksicht nehmen.«
»Dann tragen wir beide dasselbe Risiko, nicht wahr?«, fragte Andrej. »Los!« Er verlieh seinen Worten mit dem Dolch Nachdruck und Abu Dun begann umständlich und schräg gegen die Wand gelehnt die Treppe hinaufzusteigen. Die Fußfesseln waren etwas zu kurz, sodass er kaum in der Lage war, die Stufen zu bewältigen. Oben fiel er auf die Knie. Einer seine Männer wollte ihm zu Hilfe eilen, aber Andrej fuchtelte erneut mit dem Dolch herum und Abu Dun scheuchte ihn mit einem gebellten Befehl zurück. Als sie auf das Deck hinaustraten, begann Andrejs Herz schneller zu schlagen. Aber keiner von Abu Duns Männern machte Anstalten, seinem Anführer zu Hilfe zu kommen.
»Jetzt gib Befehl, den Anker zu lichten und das Ufer anzulaufen«, sagte Andrej. Abu Dun sagte tatsächlich etwas in seiner Muttersprache, aber keiner seiner Männer reagierte. Die Piraten umringten sie. Die meisten hatten ihre Waffen gezogen.
»Ich habe es dir gesagt«, sagte Abu Dun. »Sie werden nicht gehorchen.«.
Andrejs Gedanken rasten. Es gab nicht viel, was er tun konnte. Wenn er Abu Dun tötete, würden sich die Piraten auf ihn stürzen und ihn in Stücke reißen. Er hob das Messer höher und setzte die Spitze seitlich auf Abu Duns Hals.
»Ob sie gehorchen, wenn ich dir die erste Sure des Korans in die Wange schnitze?«, fragte er. Der Pirat sagte nichts, aber Andrej konnte seine Furcht beinahe riechen. Er berührte mit der Klinge Abu Duns Wange und fügte ihm einen winzigen Schnitt zu, den der Pirat kaum spüren konnte, der aber sichtbar blutete. Ein erschrockenes Murren ging durch die Reihen der Piraten und Abu Dun sagte:
»Es ist gut. Sie werden gehorchen.« Er wiederholte seine Aufforderung, lauter und in herrischem Ton. Auch jetzt erfolgte nicht sofort eine Reaktion, aber der Pirat wurde lauter und schrie nun, und endlich senkten einige seiner Männer ihre Waffen und setzten sich in Bewegung. Andrej atmete auf. Er hatte noch nicht gewonnen, aber er hatte die erste und wichtigste Hürde genommen. Abu Duns Macht über seine Männer schien doch nicht so begrenzt zu sein, wie er behauptet hatte.
»Bete zu deinem Gott, das keiner deiner Männer etwas Unbedachtes tut«, sagte Andrej.
»Vielleicht bleibst du dann ja doch am Leben.« Sein Zorn auf Abu Dun war kein bisschen kleiner geworden, aber er würde die Welt nicht besser machen, wenn er ihn tötete. Er war kein Richter. Und was Abu Dun anschließend über den Mann erzählte, dessen Verletzungen auf geheimnisvolle Art in Augenblicken heilten und der so gut wie unsterblich war, konnte ihm gleich sein. Die Welt war voller Geschichten von Zauberern, Dämonen und Hexenmeistern, die im Grunde niemand glaubte. Welche Rolle spielte es schon, ob es eine mehr gab oder nicht? Wenn Abu Dun ihm die Möglichkeit dazu gab, würde er ihn am Leben lassen. Andrej sah sich unauffällig um. Die meisten Piraten standen immer noch mit den Waffen in den Händen da und starrten ihn finster an, aber einige waren auch davongeeilt und mit irgendetwas beschäftigt, das er nicht zu erkennen vermochte. Es war nicht das erste Mal, das Andrej sich an Bord eines Schiffes befand, aber er war kein Seefahrer und es war einfach zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Er konnte nur hoffen, das die Männer taten, was Abu Dun ihnen aufgetragen hatte, und nicht irgendeine Teufelei vorbereiteten. Rückwärts gehend und Abu Dun wie einen lebenden Schutzschild vor sich haltend, bewegte er sich bis zur Reling und lehnte sich leicht dagegen. So konnte sich wenigstens niemand von hinten anschleichen. Sein Blick richtete sich aufmerksam in die Runde. Das Deck ächzte leise und er glaubte ein Zittern zu spüren, das vorher noch nicht da gewesen war. Er vermutete, das einer der Männer dabei war, den Anker einzuholen. Zwei weitere waren bereits in die Takelage hinaufgeklettert. Andrej versuchte zum Ufer zu sehen, konnte es aber nicht erkennen; nicht einmal als dunkle Linie. Die Wolkendecke vor dem Himmel hatte sich mittlerweile vollkommen geschlossen. Selbst der Fluss war nur noch eine endlose schwarze Fläche, auf der sich nicht der geringste Lichtschimmer zeigte. Es war dunkel wie in der Hölle und sehr kalt. Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Abu Dun:
»Wohin willst du gehen - sollte es dir tatsächlich gelingen, uns zu entkommen?«
»Ich wüsste nicht, was dich das anginge«, knurrte Andrej.
»Nichts«, antwortete Abu Dun.
»Es ist nur so, das ich mich frage, was du mit hundert befreiten Gefangenen anfangen willst, die dem Tod näher sind als dem Leben. Du willst sie nach Hause bringen?« Er lachte.
»Ihr würdet Wochen brauchen, wenn nicht Monate. Keiner von ihnen hat die Kraft, das durchzustehen. Und selbst wenn, es ist Krieg, hast du das vergessen?«
»Was geht mich euer Krieg an?«, fragte Andrej. Er wußte, das es ein Fehler war, überhaupt zu antworten. Abu Dun wollte ihn in ein Gespräch verwickeln, womöglich ablenken, damit seine Leute eine Gelegenheit fanden, ihn zu befreien.
»Bis hinauf zu den Karpaten befindet sich das Land in der Hand Sultan Selics«, antwortete Abu Dun.
»Und was seine Truppen nicht besetzt halten, das verwüsten die versprengten Haufen der Walachen, Kumanen und Ungarn, die sich untereinander nicht weniger erbittert bekriegen als die großen osmanischen und christlichen Heere. Du glaubst tatsächlich, du könntest eine Karawane halb toter Männer, Frauen und Kinder durch dieses Gebiet nach Hause bringen?« Er schüttelte den Kopf.
»Nein. So dumm bist du nicht, Hexenmeister.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Andrej.
»Ihr braucht ein Schiff«, antwortete Abu Dun.
»Und ich habe eines.«
»Das ist gar keine schlechte Idee«, sagte Andrej.
»Wir könnten dich und deine Männer über Bord werfen und mit dem Schiff weiterfahren.« Abu Dun lachte.
»Sei kein Narr. Selbst wenn ihr es könntet, wie weit würdet ihr kommen, bis ihr auf die ersten Truppen des Sultans trefft? Oder auf die Ungarn - was im Zweifelsfall keinen Unterschied für euch macht?« Er bewegte sich leicht, erstarrte aber sofort wieder, als Andrej den Druck auf die Messerklinge verstärkte.