Aus dem Hauptgebäude drangen gedämpfte Stimmen, und zwei Fenster waren schwach erleuchtet, aber im Großen und Ganzen schien Waichs bereits zu schlafen. Ganz weit entfernt, selbst für seine überscharfen Sinne kaum noch wahrnehmbar, glaubte er Schreie zu hören. Dann sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Käfig, in den sie Vater Domenicus gesteckt hatten, hing an einer Kette unweit des Tores zwei Meter über dem Boden, und er war nicht leer. Vater Domenicus lag gekrümmt auf den rostigen Gitterstäben. Andrej konnte nicht sagen, ob er noch lebte. Er empfand nicht eine Spur von Mitleid, aber sein Gesicht verdüsterte sich noch weiter. Hatte er wirklich geglaubt, dass Tepesch sein Wort hielt? Maria. Tepesch hatte versprochen, auch Maria kein Haar zu krümmen. Andrej überlegte in den Hof hinunterzugehen und die Wache am Tor zu überwältigen, entschied sich aber dagegen. Mit jedem ausgeschalteten Soldaten stieg auch die Gefahr, entdeckt zu werden. Ein unaufmerksamer Posten war besser als einer, der plötzlich verschwunden war und dessen Fehlen bemerkt werden konnte. Stattdessen wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung und huschte zum anderen Ende des Wehrganges, wobei er geschickt jeden Schatten als Deckung ausnutzte und sich vollkommen lautlos bewegte. Die Tür, vor der der Wehrgang endete, führte in den großen Hauptturm der Festung und war von innen verschlossen, wie Andrej erwartet hatte, doch vier oder fünf Meter über ihm gab es zwei Fenster; schmal, aber nicht so schmal, dass er sich nicht hindurchzwängen konnte. Nach einem letzten sichernden Blick in den Burghof kletterte er hinauf, zwängte sich mit einiger Mühe durch die schmale Öffnung und fand sich in einer kleinen, unbeleuchteten Kammer wieder. Er hatte abermals Glück.
Die Tür war nicht verschlossen, und auch der schmale Gang dahinter war leer. Der Position des Fensters nach zu schließen, durch das er eingestiegen war, mussten sich Tepeschs Privatgemächer direkt über ihm befinden. Er konnte nur hoffen, dass sich Maria und Frederic noch dort oben aufhielten. Die Zeit, die gesamte Burg zu durchsuchen, hatte er nicht. Andrej schlich bis zum Ende des Ganges, blieb einen Moment stehen und lauschte. Vor ihm lag eine Treppe. Alles schien vollkommen still zu sein. Dann hörte er die regelmäßigen Atemzüge eines Mannes, der offensichtlich dort oben Wache hielt; nicht allzu weit entfernt, aber eindeutig zu weit, um ihn überraschen zu können, ohne dass er Gelegenheit fand, einen Schrei auszustoßen. Andrej sammelte sich kurz, dann betrat er mit einer gelassen wirkenden Bewegung, aber leicht gesenktem Blick, damit man sein Gesicht nicht sah, die Treppe. Er hatte sich getäuscht. Diesmal hatten ihn seine neu erworbenen Sinne im Stich gelassen. Die Treppe endete nach etwa fünfzehn Stufen vor einer geschlossenen Tür und davor standen nicht ein, sondern zwei Männer. Er legte fast ein Drittel der Entfernung zurück, ehe einer der beiden ihn ansprach.
»Heda! Wer bist du? Was willst du hier? Der Fürst ist nicht da.«
»Ich weiß«, antwortete Andrej, ohne den Kopf zu heben. Er ging schnell, aber ohne sichtbare Hast weiter und versuchte, die Männer aus den Augenwinkeln zu begutachten, ohne sie direkt anzusehen. Er war sicher, dass jeder Mann hier auf der Burg sein Gesicht kannte. Die beiden wirkten überrascht und leicht angespannt, aber nicht beunruhigt.
»Tepesch hat mich geschickt. Ich soll das Mädchen holen.«
»Welches Mädchen? Wie ...« Andrej war nahe genug. Mit einer vollkommen geschmeidigen Bewegung schnellte er vor und war plötzlich zwischen den Männern. Er sah, wie sich die Augen des einen vor Entsetzen weiteten, als er ihn erkannte, während der andere nach seiner Waffe griff. Ihre Bewegungen erschienen ihm langsam. Andrej schlug dem einen die Handkante vor den Adamsapfel. Noch während der Mann würgend und nach Luft ringend zusammenbrach, packte er das Handgelenk des zweiten und verdrehte es mit einem Ruck. Andrej tastete mit der anderen Hand nach seinem Hals ... Und zog die Finger im letzten Moment wieder zurück.
»Das Mädchen!«, fragte er scharf.
»Die Schwester des Inquisitors! Wo ist sie?« Der Mann wimmerte vor Schmerz, antwortete aber nicht, sondern sah ihn nur aus entsetzten Augen an. Andrej verstärkte den Druck auf seine Hand noch und der Soldat ächzte.
»Sprich!«
»Das darf ich nicht«, wimmerte der Posten.
»Tepesch wird mich töten!«
»Töten?« Andrej lachte.
»Das ist nichts. Du weißt, wer ich bin?« Er hob die rechte Hand, krümmte die Finger zu einer Kralle und tat so, als wolle er sie dem Mann in die Augen schlagen.
»Dann weißt du auch, wozu ich fähig bin!«
»Nein«, wimmerte der Soldat.
»Bitte nicht! Sie ist in Tepeschs Gemach. Die Tür am Ende des Ganges.«
»Wie viele Wachen? Rede!«
»Keine«, wimmerte der Mann.
»Das ist die Wahrheit! Der Fürst duldet keine Männer mit Waffen in seiner Nähe, wenn er sich zurückzieht.« Andrej griff nun doch nach seinem Hals und drückte kurz und hart auf den Nervenknoten. Der Mann brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Andrej verzichtete darauf, ihn zu fesseln, ging jedoch noch einmal zu dem zweiten Wachtposten zurück, um ihn auf den Rücken zu drehen. Der Mann war tot. Es war nicht Andrejs Schlag gewesen, der ihn getötet hatte. Er war etliche Stufen weit die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich den Schädel eingeschlagen. Andrejs Hände begannen zu zittern. Das Gesicht des Toten war rot von Blut, das aus einer tiefen Wunde an seiner Stirn quoll. Der Anblick brachte ihn fast um den Verstand. Die Gier war wieder da. Für einen Moment wollte er nichts mehr, als die Lippen auf diesen pulsierenden Storm zu pressen, die bittere Süße aufzusaugen und das Blut und die erlöschende Lebenskraft des Mannes aus ihm herauszureißen. Was machte es schon? Der Mann starb sowieso und es war nicht schlimm, wenn er seine Lebenskraft nahm, die ohnehin verloren war und verblassen würde. Es gelang ihm nur mit größter Mühe, die Schultern des Toten loszulassen und sich aufzurichten. Er widerstand der brodelnden Gier, aber nur mit allerletzter Kraft. Andrej ging wieder nach oben, öffnete die Tür und fand sich in dem schwach erhellten Gang wieder, in dem er bei seinem ersten Aufenthalt gewesen war. Es gab keine weiteren Wachen, aber er hörte ein leises Schluchzen, das durch die geschlossene Tür am anderen Ende des Ganges drang. Andrej bewegte sich im Laufschritt weiter, riss vergeblich an der Tür und stellte erst dann fest, dass der Riegel von außen vorgelegt war. Mit einer ungeduldigen Bewegung schleuderte er ihn zur Seite und stieß die Tür auf. Diesmal entrang sich seiner Kehle tatsächlich ein Schrei. Der große Raum wurde von mindestens fünfzig Kerzen erleuchtet, deren Licht in Andrejs empfindlich gewordenen Augen schmerzte. Im Kamin brannte ein gewaltiges Feuer, das die Luft im Raum unangenehm warm und fast schon stickig werden ließ. Zuerst glaubte er, der Posten hätte gelogen und Tepesch selbst stünde hinter der Tür und warte auf ihn. Dann erkannte er, dass es nur seine leere Rüstung auf einem aus Holz gezimmerten Ständer war. Außer ihm befand sich nur noch Maria im Zimmer. Sie lag auf Draculs übergroßem Bett und war beinahe nackt. Als sie das Geräusch der Tür hörte, fuhr sie erschrocken hoch und raffte die Decken zusammen, um ihre Blöße zu bedecken. Sie weinte. Ihr Haar war aufgelöst. Die rechte Seite ihres Gesichts war gerötet und begann bereits anzuschwellen. Unter ihrer Nase und auf der Oberlippe klebte ein wenig getrocknetes Blut. Andrej war mit wenigen schnellen Schritten bei ihr. Maria schien ihn jedoch gar nicht zu erkennen, denn sie prallte entsetzt vor ihm zurück, zog die Knie an den Leib und krallte beide Hände in das Bettlaken, das sie bis ans Kinn hochgezogen hatte. In ihren Augen flackerte eine Furcht, die die Grenzen zum Wahnsinn vielleicht schon überschritten hatte.