»Maria!« Andrej streckte die Hand nach ihr aus, aber sie schrak nur noch heftiger zusammen. Aus ihrem Weinen war ein krampfhaftes, gequältes Schluchzen geworden.
»Maria, bitte!« Andrej ließ sich behutsam auf die Bettkante sinken und zog den Arm weiter zurück. Er ließ die Hand halb ausgestreckt, in einer helfenden Geste, die es ihr überließ, danach zu greifen. Maria hörte auf zu schluchzen, aber sie zitterte so heftig, dass das gesamte Bettgestell zu beben begann. Ihr Blick flackerte. Für die Dauer eines Atemzuges wusste Andrej, dass sie ihn nicht erkannte. Dann schrie sie plötzlich auf und warf sich mit solcher Wucht gegen ihn, dass er um ein Haar von seinem Platz auf der Bettkante gestürzt wäre. Sie begann wieder zu weinen, lauter und heftiger als zuvor, aber nun war es nicht mehr dieses krampfhafte, schmerzerfüllte Schluchzen, das sie schüttelte. Es waren andere Tränen; Tränen der Erleichterung, die den Schmerz nicht wegspülten, es aber ein wenig leichter machten, ihn zu ertragen. Andrej hielt sie fest, bis sie ganz allmählich aufhörte zu zittern und ihre Tränen versiegten. Es dauerte lang. Andrej wusste nicht, wie lange, aber es verging viel Zeit. Endlich, nach einer Ewigkeit, löste sich Maria wieder aus seiner Umarmung und rutschte ein Stück von ihm weg.
»Tepesch?«, fragte er leise. Natürlich Tepesch. Wer sonst?
»Ich habe versucht, mich zu wehren«, sagte Maria.
»Aber er ist stark. Ich konnte nichts tun.«
»Dafür werde ich ihn töten«, sagte Andrej. Er meinte es ernst.
»Er hat mich hier raufgeschafft«, fuhr Maria fort, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört.
»Er hat gesagt, ich bräuchte keine Angst zu haben. Dann kam er zurück. Seine Hände waren voller Blut. Ich habe mich gewehrt, aber er war einfach zu stark.« Was sollte er sagen? Ganz gleich, welche Worte er gewählt hätte, sie hätten in ihren Ohren nur wie bitterer Hohn geklungen. So sah er sie nur an und wartete darauf, dass sie von sich aus weitersprach, aber Maria erwiderte lediglich stumm seinen Blick. Schließlich erhob sie sich und ging um das Bett herum zum Fenster. Es lag eine Art stumme Resignation darin, die ihren Schmerz vielleicht deutlicher zum Ausdruck brachte, als alle Tränen und jedes Wort gekonnt hätten. Tepesch hatte ihr alles genommen. Es gab nichts mehr, was sie noch hätte verteidigen können. Noch einmal, und diesmal mit einer kalten Entschlossenheit, nahm er sich vor, Tepesch zu töten. Maria starrte weiter aus dem Fenster auf den Hof hinab. Der Gitterkäfig mit Domenicus hing fast in gerader Linie unter dem Fenster, auf der anderen Seite des Hofes. Andrej bezweifelte, dass ihr Sehvermögen ausreichte, um jetzt mehr als Dunkelheit und Schatten dort unten zu erkennen, aber sie hatte den ganzen Tag über Zeit gehabt, aus diesem Fenster zu sehen. Aus keinem anderen Grund hatte Tepesch sie hier oben eingesperrt, statt in irgendeinem anderen Zimmer der Burg.
»Er wird dafür bezahlen«, sagte er leise.
»Aber zuerst bringe ich dich hier raus. Draußen vor dem Tor wartet ein Freund, der dich wegbringt.« Sie starrte noch eine endlose Weile aus dem Fenster, dann drehte sie sich wiederum, ging zum Bett zurück und griff nach ihren Kleidern.
»Weißt du, wo Frederic ist?«, fragte er, wieder zum Fenster gewandt.
»Nein. Er hat mich gleich hier raufgebracht, nachdem du gegangen warst. Aber kurz darauf hat er Männer losgeschickt, die dich suchen und töten sollten. Ich bin froh, dass sie dich nicht gefunden haben.«
»Weißt du, wie viele Männer in der Burg sind?«
»Er hat es mir nicht gesagt. Aber als er vorhin zu mir kam, da schäumte er vor Wut. Ich glaube, es ist ein weiteres osmanisches Heer im Anmarsch. Die meisten Soldaten sind fort, um die Verteidigung der Stadt zu organisieren oder Verstärkung zu holen. Ich glaube nicht, dass noch sehr viele hier sind.« Das würde die geringe Anzahl der Wachen erklären, dachte Andrej. Aber es erklärte nicht die Tatsache, dass Tepesch auf Waichs geblieben war, statt selbst an der Spitze des Heeres zu reiten und sich dem neuen Gegner entgegenzuwerfen. Tepesch war vieles, aber eines gewiss nicht: Ein Feigling.
»Ich bin so weit«, sagte Maria.
»Gut.« Andrej drehte sich um und ging zur Tür, ohne auch nur in ihre Richtung zu sehen.
»Bleib immer dicht hinter mir und sei leise.« Sie verließen den Raum und auch den Flur, ohne jemanden zu treffen. Der Wächter draußen auf der Treppe war noch immer bewusstlos. Auch den Toten hatte noch niemand gefunden. Andrej lauschte, während sie sich rasch nach unten bewegten. Es herrschte fast vollkommene Stille. Einmal glaubte er, ganz weit entfernt einen Schrei zu hören, aber er war auch diesmal nicht sicher. Dann hatten sie das Ende der Treppe und damit die Tür zum Hof erreicht, und Andrej gab Maria ein Zeichen, ein Stück zurückzubleiben und sich still zu verhalten. Er musste länger oben im Turm gewesen sein, als es ihm vorgekommen war, denn in der Burg war es mittlerweile vollkommen still geworden. Das Lachen und die Stimmen waren verstummt. Nur hinter einem einzigen Fenster brannte noch Licht. Trotzdem gestikulierte Andrej noch einmal in Marias Richtung, um ihr zu bedeuten, sie solle stehen bleiben, dann straffte er die Schultern und ging mit selbstbewussten Schritten quer über den Hof. Der Posten bemerkte ihn, noch bevor er die halbe Strecke zurückgelegt hatte, aber wie seine beiden Kameraden vorhin im Turm schöpfte er keinen Verdacht. Warum auch? Er sprach Andrej an, als er noch fünf oder sechs Schritte von ihm entfernt war.
»Was willst du? Schickt dich Fürst Tepesch?«
»Ja«, antwortete Andrej - nachdem er zwei weitere Schritte zurückgelegt hatte.
»Ich soll nach dem Pfaffen sehen. Lebt er noch?«
»Vorhin hat er jedenfalls noch gelebt«, antwortete der Wächter.
»Aber für Tepeschs Folterkammer taugt er nicht mehr. Er würde es nicht einmal ...« Andrej hatte ihn erreicht, trat mit einer fast gelassenen Bewegung neben ihn, dann mit einem blitzartigen Schritt hinter ihn und schlang ihm den linken Arm um den Hals. Mit der anderen Hand hielt er ihm Mund und Nase zu und zerrte ihn gleichzeitig zurück in den schwarzen Schlagschatten des Tores. Der Mann ließ seinen Speer fallen, der klappernd auf das harte Kopfsteinpflaster des Hofes fiel, und begann verzweifelt in Andrejs Griff zu zappeln; aber nur für einen Moment, bis Andrej den Druck verstärkte und er nun endgültig keine Luft mehr bekam.
»Dimitri?« Die Stimme drang von der Höhe des Wehrganges herab. »Ist alles in Ordnung?«
»Wenn du schreist, breche ich dir das Genick«, zischte Andrej.
»Hast du das verstanden?« Der Mann nickte schwach und Andrej nahm langsam die Hand von seinem Gesicht, bereit, jederzeit wieder zuzupacken und seine Drohung wahr zu machen, sollte er auch nur einen verräterischen Laut von sich geben. Er rang jedoch nur keuchend nach Luft.
»Dimitri! Antworte!«
»Tu es«, flüsterte Andrej drohend.
»Beruhige ihn! Mach keinen Fehler!«
»Es ist alles in Ordnung!«, rief der Mann. Seine Stimme klang ein wenig atemlos, aber Andrej hoffte, dass es seinem Kameraden oben auf dem Wehrgang nicht auffiel.