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»Mir ist der Speer aus der Hand gefallen. Ich wäre fast eingeschlafen.« Die Antwort bestand aus einem kurzen Lachen.

»Lass dich nicht dabei erwischen.« Dann setzte der Wächter seinen Rundgang fort.

»Du willst also leben«, sagte Andrej.

»Gut. Du scheinst ein vernünftiger Mann zu sein. Ich werde dich jetzt loslassen, aber mein Dolch ist auf dein Herz gerichtet. Wenn du um Hilfe rufst, stirbst du auf jeden Fall.« Er zog das Messer aus dem Gürtel, nahm vorsichtig den Arm vom Hals des Mannes und trat dann hastig einen Schritt zurück. Der Soldat blieb noch einen Augenblick wie erstarrt stehen und drehte sich dann langsam um. Andrej konnte seine Angst riechen.

»Du weißt, wer ich bin?«, fragte Andrej. Dimitri nickte. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Er war fast verrückt vor Angst.

»Dann weißt du auch, dass ich dich töten und deine Seele verdammen kann, nur mit einem einzigen Blick.« Dimitri nickte erneut.

»Jetzt bück dich nach deinem Speer«, befahl Andrej.

»Bevor deine Freunde auf der Mauer noch Verdacht schöpfen.« Der Soldat gehorchte, wenn auch langsam und ohne Andrej aus den Augen zu lassen. Wahrscheinlich verstand er nicht, warum er überhaupt noch lebte.

»Wie viele Wächter sind noch da?«, fragte Andrej.

»Drei«, antwortete Dimitri.

»Außer mir. Zwei auf den Mauern und einer oben im Turm.« Das entsprach der Wahrheit, Andrej spürte es. Der Mann hatte viel zu viel Angst, um zu lügen. Einen der Posten oben auf der Mauer hatte er ausgeschaltet, aber gegen die Ausguckwache im Turm konnte er nichts unternehmen. Er vermutete jedoch, dass der Mann seine Aufmerksamkeit auf die weitere Umgebung der Burg konzentrieren würde. In dem fast vollkommen dunklen Hof konnte er ohnehin nichts erkennen.

»Also gut«, sagte er.

»Ruf ihn herunter.«

»Wen?«

»Deinen Kameraden, oben auf der Mauer«, antwortete Andrej.

»Der, mit dem du gerade gesprochen hast. Sag ihm, dass du seine Hilfe brauchst.« Der Mann zögerte einen Moment, drehte sich dann aber hastig herum und rief gehorsam nach seinem Kameraden, als Andrej eine drohende Bewegung mit dem Messer machte.

»Savo! Komm herunter! Ich brauche deine Hilfe!« Er bekam keine Antwort, aber schon bald hörten sie Schritte die hölzernen Stufen hinunterpoltern. Der Mann drehte sich hektisch zu Andrej um.

»Wenn ... wenn du mich tötest, wirst du meine See le dann mit dir in die Hölle nehmen?«, fragte er stockend. Hätten die Worte Andrej nicht bis ins Innerste erschreckt, dann hätte er darüber lachen können. So aber ließen sie ihn schaudern. Es war nicht das Messer in seiner Hand, das den Soldaten zu Tode erschreckt hatte. Er war es. »Du wirst noch lange leben, wenn du vernünftig bist«, antwortete er.

»Du interessierst mich nicht. Mach keinen Fehler, und du wirst leben.« Schritte näherten sich. Eine groß gewachsene Gestalt, selbst für Andrejs scharfe Augen nur als Schatten erkennbar, kam quer über den Hof auf sie zu. Andrej zog rasch das Schwert aus Dimitris Gürtel, wich wieder in den Schatten zurück und wartete, bis der zweite Wachtposten zu ihnen gestoßen war. Es war beinahe zu leicht. Andrej trat aus dem Schatten heraus und hob das Schwert. Der Mann erstarrte mitten in der Bewegung.

»Gut«, sagte Andrej.

»Ich sehe, dass Tepesch nur vernünftige Männer in seiner Umgebung duldet. Wenn ihr vernünftig seid, geschieht euch nichts. Gibt es außer dem Hauptweg durch das Tor noch einen Weg aus der Burg?« Dimitri schüttelte stumm den Kopf, doch Savo tat etwas ziemlich Unüberlegtes: Er stürzte sich auf Andrej. Der machte einen Schritt zur Seite, schlug ihm die flache Seite des Schwertes gegen den Schädel und Savo fiel bewusstlos zu Boden, noch bevor er sein Schwert auch nur halb aus der Scheide gezogen hatte.

»Das war nicht sehr vernünftig«, sagte Andrej, zu Dimitri gewandt. »Ich werde alles tun, was Ihr verlangt, Herr«, sagte Dimitri hastig. »Gut«, antwortete Andrej.

»Wie viele Soldaten sind auf der Burg?«

»Nicht viele«, antwortete Dimitri.

»Fünfundzwanzig, höchstens dreißig. Die meisten schlafen bereits«, fügte er noch ungefragt hinzu.

»Tepesch?«

»Ich weiß nicht, wo er sich aufhält«, behauptete Dimitri. Er würde ihn schon finden. Was im Augenblick zählte, war allein, Maria hier herauszubringen. Er scheuchte Dimitri ein Stück zurück und rief dann mit gedämpfter Stimme Marias Namen. Er musste ihn drei- oder viermal wiederholen, bevor sie reagierte, dann aber kam sie mit schnellen Schritten über den Hof gelaufen. Sie beachtete weder den Bewusstlosen am Boden, noch Andrej oder seinen Gefangenen, sondern starrte den Gitterkäfig an, der in zwei Metern Höhe aufgehängt war.

»Lasst ihn herunter!« Andrej war über diesen Wunsch nicht glücklich, aber er machte trotzdem eine Kopfbewegung in Richtung des Wachmannes. Der trat an eine hölzerne Konstruktion, die unweit des Tors an der Burgmauer befestigt war, und begann an einer Kurbel zu drehen. Es dauerte nicht lang, bis sich der Käfig zu Boden gesenkt hatte.

»Aufmachen«, befahl Andrej. Der Wächter nestelte einen Schlüssel von seinem Gürtel, ließ sich vor dem Käfig auf die Knie fallen und mühte sich mit dem Schloss ab, das schließlich mit einem schweren Klacken aufsprang. Plötzlich stieß Maria einen spitzen Schrei aus, war mit einem Sprung bei ihm und schleuderte ihn zu Boden. Mit bebenden Händen riss sie die Käfigtür auf, beugte sich hinein und versuchte, nach der gekrümmten Gestalt darin zu greifen. Andrej hörte sie scharf einatmen, als sie sich an einem der spitzen Metalldornen verletzte. Als er näher trat, um ihr zu helfen, stieg ihm ein süßlicher Blutgeruch in die Nase. Tief in ihm begann sich etwas zu rühren, ein Hunger, der zu unwiderstehlicher Gier anwachsen würde, wenn er ihm nachgab. Andrej kämpfte das Gefühl mit Mühe nieder, schob Maria mit sanfter Gewalt zur Seite und hob Domenicus’ verkrümmten Körper aus dem Käfig. Er schien fast überhaupt nichts zu wiegen. Noch einmal wurde der Blutgestank so übermächtig, dass er die lodernde Gier in sich nur noch mit letzter Kraft unterdrücken konnte. Mit einem drohenden Blick schleuderte er Dimitri zur Seite, trug Domenicus zwei Schritte weit und legte ihn dann behutsam zu Boden. Der Inquisitor lebte noch. Die spitzen Metalldornen hatten ihm zahlreiche Wunden zugefügt, die sich zum Teil bereits entzündet hatten. Die glühende Sonne hatte seinen Körper ausgezehrt und seine Haut verbrannt. Es kam Andrej fast wie ein Wunder vor, dass er nicht bereits verdurstet war.

»Domenicus«, murmelte Maria entsetzt.

»Oh, mein Gott. Was ... was haben sie dir angetan?«

»Was ihm zusteht«, murmelte Andrej. Maria warf ihm einen zornigen Blick zu, beugte sich aber sofort wieder über ihren Bruder. Andrej bereute plötzlich überhaupt etwas gesagt zu haben. Er empfand keinerlei Rachegelüste mehr beim Anblick des zerschlagenen, wimmernden Bündels, das sterbend in Marias Armen lag. Domenicus hatte den Tod und jede Sekunde Schmerz, die er litt, verdient, aber Andrej empfand bei diesem Gedanken nicht einmal Genugtuung.

»Er stirbt«, schluchzte Maria.

»Andrej, er stirbt! Bitte, tu etwas! Du musst ihm helfen!«

»Das kann ich nicht«, sagte Andrej.

»Ich weiß, was er dir angetan hat«, sagte Maria. Tränen liefen über ihr Gesicht.

»Ich weiß, dass du ihn hassen musst. Aber ich flehe dich an, hilf ihm!«

»Das kann ich nicht, Maria«, sagte Andrej noch einmal.

»Bitte glaub mir. Es hat nichts damit zu tun, was er ist und was er getan hat. Ich hasse ihn nicht. Nicht mehr.« Er schüttelte traurig den Kopf.

»Ich kann es nicht.« Maria hatte seine Worte gar nicht gehört.

»Du kannst von mir haben, was du willst«, sagte sie unter Tränen. »Bitte, Andrej, tu es für mich! Du ... du kannst mich haben. Ich gehöre dir, wenn du es willst, aber ... aber hilf ihm! Rette ihn!«

»Bitte, Maria«, murmelte Andrej. Ihre Worte stimmten ihn traurig, aber sie weckten auch noch etwas in ihm, das ihm nicht gefiel und das er hastig unterdrückte.