»Weil er den Tod verdient hat«, antwortete Andrej. Er erschrak selbst vor der Kälte in seiner Stimme. Es war nicht die Wahrheit. Es stimmte - der Mann, der so oft in Tepeschs Haut geschlüpft war, war kaum besser als sein Herr gewesen und hatte den Tod tausendfach verdient -, aber das war nicht der Grund, aus dem er ihn getötet hatte. Der wirkliche Grund war viel einfacher: Er hatte es gewollt. Abu Dun antwortete nicht. Er sah Andrej nur an. In seinen Augen war etwas, das ihn an den Ausdruck in Marias Blick erinnerte und ihm fast ebenso große Angst machte. Hinter ihnen erscholl ein weiterer, noch gellenderer Schrei, und Andrej fuhr herum und stieß die Tür auf. Andrej hatte gewusst, was sie sehen würden. Es war nicht das erste Mal, dass er hier war. Und trotzdem ließ der Anblick einen Nebel aus roter Wut vor seinen Augen aufsteigen. Tod. Er sah Tod und er wollte Tod. Der riesige Gewölbekeller war von flackerndem rotem Licht erfüllt. Die Luft roch nach Ruß und ätzendem Rauch, aber auch nach Blut und menschlichem Leid und Sterben. Die großen Metallkäfige, die den Keller unterteilten, waren nach wie vor besetzt. Abu Dun hatte nur einen kleinen Teil der Gefangenen befreit. In die Gitterkäfige waren noch mindestens hundert Männer eingepfercht. Keiner von ihnen rührte sich. Die Männer waren tot. Alle.
»Dieses Ungeheuer!«, murmelte Abu Dun. Seine Stimme zitterte. »Dieses ... Tier! So etwas tut doch kein Mensch!« Andrej hörte ihn nicht. Sein Blick war starr auf den Gitterkäfig links neben dem Eingang gerichtet, Tepeschs Folterkeller. Tepesch und Frederic waren allein. Es gab keine weiteren Wächter oder Soldaten. Tepesch hatte Andrej und Abu Dun den Rücken zugekehrt und beugte sich über einen hölzernen Tisch, auf dem eine kleine Gestalt festgeschnallt war. Andrej konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber Frederics Schreie gellten spitz und unmenschlich hoch in seinen Ohren.
»Dracul!«, schrie er. Tepesch fuhr hoch. Sein Gesicht war verzerrt, als er es Andrej zuwandte. Er hielt ein Messer mit einer gezahnten, sonderbar gebogenen Klinge in der Hand, von dem Blut tropfte. Andrej wagte sich nicht einmal vorzustellen, was er Frederic damit angetan hatte.
»Dracul!«, schrie er noch einmal.
»Hör auf! Wenn du Blut willst, dann versuch dir meines zu holen!« Er stürmte los. Es waren nur wenige Schritte bis zur offen stehenden Tür des Folterkäfigs, aber Tepesch war ihr noch näher und er musste wissen, dass es um ihn geschehen war, wenn es ihm nicht gelang, die Tür zu schließen. Er lief im gleichen Moment los wie Andrej. Er war der Tür erheblich näher als Andrej, musste allerdings erst die Folterbank umkreisen, auf der Frederic festgebunden war. Aber er bewegte sich mit fast übermenschlicher Geschwindigkeit - und er würde es schaffen. Andrej begriff mit entsetzlicher Klarheit, dass er nicht schnell genug sein würde. Er war noch vier Schritte von der Tür entfernt, Tepesch noch zwei. Da nahm er noch ein weiteres, aber entscheidendes Detail wahr: Die Tür hatte ein einfaches, aber sinnreiches Schloss, das es, einmal eingeschnappt, vollkommen unmöglich machte, es ohne den dazugehörigen Schlüssel zu öffnen. Tepesch würde es vor ihm schaffen, die Tür zu erreichen. Vielleicht nur den Bruchteil eines Augenblicks, aber er war schneller. Etwas flog mit einem hässlichen Geräusch an ihm vorbei. Tepesch keuchte, taumelte weniger als eine Armeslänge von der Tür entfernt, wie von einem gewaltigen Schlag getroffen zurück und prallte gegen die Gitterstäbe. Aus seiner linken Schulter ragte der Griff eines Dolches, den Abu Dun nach ihm geschleudert hatte. Andrej sprengte die Tür mit der Schulter vollends auf, sprang über Tepesch hinweg und war mit einem Satz an dem gewaltigen Tisch, auf dem Frederic festgebunden war. Er erstarrte. Ihm wurde übel, als er sah, was Tepesch dem Knaben angetan hatte. Frederic schrie. Er hatte die ganze Zeit über nicht aufgehört zu schreien, ein grässliches, an- und abschwellendes ununterbrochenes Kreischen, das in Andrejs Ohren vibrierte. Er blutete aus fürchterlichen Wunden, die Tepesch ihm zugefügt hatte. Andrej wusste, dass das Blut versiegen und die Wunden verheilen würden, aber was war mit den Verletzungen, die Tepesch seiner Seele zugefügt hatte? Frederic hörte auf zu schreien. Aus seinem furchtbaren Kreischen wurde ein nicht minder entsetzliches Schluchzen und Wimmern, während er den Kopf drehte und Andrej aus Augen ansah, in denen sich unvorstellbare Pein mit vielleicht noch größerer Verzweiflung mengte. Die Unsterblichkeit hatte einen Preis, begriff Andrej. Und vielleicht war er zu hoch.
»Hilf mir«, wimmerte Frederic.
»Bitte, hilf mir!« Vielleicht war das das Schlimmste, was er ihm antun konnte. Es war dasselbe, was Maria von ihm verlangt hatte. Die vielleicht einzige Bitte, die er nicht erfüllen konnte. Er konnte nicht helfen. Er konnte nicht heilen. Das Einzige, was er wirklich konnte, war zerstören. Hinter ihm erklang ein Schrei, dann ein Geräusch wie von dumpfen Schlägen. Er drehte sich nicht einmal herum. Zitternd streckte er die Hand aus, wie um Frederics zerstörten Körper zu berühren, wagte es aber dann doch nicht, sondern ließ seine Finger wenige Zentimeter über seinem geschundenen Fleisch schweben. Frederic Wunden begannen sich bereits zu schließen. Das Blut versiegte und sein Wimmern wurde leiser. Aber er hatte Schmerzen erlitten. Nichts konnte ihm die Qual nehmen, die der Drache ihm zugefügt hatte. Endlich erwachte Andrej aus seiner Erstarrung. Es war nicht viel, was er für Frederic tun konnte, aber immerhin dies: Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und durchtrennte mit vier schnellen Schnitten die breiten Lederbänder, mit denen Frederics Hand- und Fußgelenke gefesselt waren. Frederic seufzte hörbar, bäumte sich noch einmal auf dem Foltertisch auf und verlor endlich das Bewusstsein. Andrej schloss die Augen, versuchte den Sturm von Gefühlen niederzukämpfen, der in ihm tobte, und wandte sich dann um. Abu Dun hatte Tepesch in die Höhe gezerrt und das Messer aus seiner Schulter gerissen. Tepesch blutete heftig, wehrte sich aber trotzdem nach Kräften, aber der hünenhafte Schwarze hielt ihn so mühelos fest, wie ein Kind eine Gliederpuppe gehalten hätte.
»Wache!«, brüllte Tepesch.
»Wache! Hierher!«
»Gib dir keine Mühe«, sagte Andrej kalt.
»Es ist niemand mehr da.« Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und trat näher. Abu Dun schlug ihm das Messer aus der Hand.
»Nein! Mehmed will ihn lebend!« Er lachte grollend.
»Falls es dir ein Trost ist - er wäre dir vermutlich dankbar, wenn du ihn töten würdest. Mehmed weiß, was er Selic und seinen Männern angetan hat.« Andrej wusste, dass er Recht hatte. Der Sultan hatte ihnen nicht aus Barmherzigkeit befohlen, ihnen Vlad Tepesch lebendig zu übergeben. Wenn er Rache wollte, dann bestand seine furchtbare Aufgabe darin, Dracul an die Türken auszuliefern. Die Grausamkeit der Muselmanen war bekannt. Und trotzdem kostete es ihn seine gesamte Kraft, sich nicht auf Tepesch zu stürzen und ihm das Herz aus dem Leib zu reißen.
»Fessele ihn«, sagte er.
»Und stopf ihm das Maul, damit ich sein Gewimmer nicht hören muss.« Abu Dun machte sich die Sache einfacher: Er schlug Tepesch die geballte Faust in den Nacken. Der brach bewusstlos in seinen Armen zusammen.
»Bring ihn raus«, sagte Andrej.
»Ich kann ihn nicht mehr sehen!« Frederic erwachte kurze Zeit später. Seine Wunden hatten sich geschlossen und sein Gesicht hatte nicht mehr dieses schreckliche Totenweiß. Als er die Augen öffnete, wirkte sein Blick verloren; dann kehrte die Erinnerung in seine Augen zurück - und damit der Schmerz.
»Was ...?«, begann er.
»Bleib einfach liegen«, unterbrach ihn Andrej. Er versuchte aufmunternd zu lächeln, spürte aber selbst, dass es ihm nicht überzeugend gelang.
»Du wirst noch eine Weile brauchen, um dich zu erholen.«
»Es hat wehgetan«, flüsterte Frederic. »So ... entsetzlich weh.«
»Ich weiß«, antwortete Andrej. »Aber nun ist es vorbei.«
»Du hast ihn getötet«, vermutete Frederic. Andrej zögerte einen winzigen Moment.