»Wenn man einem Salamander den Kopf abschneidet, ist er tot«, sagte Andrej ernst. Frederic wollte etwas erwidern, aber Andrej schüttelte den Kopf und fuhr fort:
»Du darfst deine Unverwundbarkeit niemals als Waffe einsetzen, hörst du? Niemand darf davon erfahren.«
»Das weiß ich längst«, sagte Frederic.
»Außerdem wissen schon viele um dieses Geheimnis. Vater Domenicus und ...«
»Er wird es niemandem erzählen«, unterbrach ihn Andrej, »selbst wenn er es tatsächlich überlebt haben sollte, das du ihm einen Dolch durch die Kehle gestoßen hast.«
»Ich wollte nur, ich wäre sichergegangen, das er wirklich tot ist«, sagte Frederic feindselig.
»Vielleicht ist er ja auch schon längst tot«, sagte Andrej leise, während ein ganz anderes Bild als das des grausamen Kirchenfürsten vor seinem inneren Auge aufstieg: das von Domenicus’ Schwester Maria, die er in Constäntä unter dubiosen Umständen kennen gelernt hatte. Zu behaupten, Maria hätte ihm den Kopf verdreht, wäre maßlos untertrieben gewesen. Doch Frederic hatte den verhassten Inquisitor Domenicus auf dem Markplatz von Constäntä niedergestochen: Mit dieser Tat hatte er seine von der Inquisition ermordeten oder verschleppten Verwandten rächen wollen, doch zwischen ihm und Maria war es deswegen zum Bruch gekommen. Im Grunde genommen hatten Andrej und die verwöhnte junge Frau von Anfang an zwei feindlichen Lagern angehört. Das allerdings änderte nichts daran, das er noch immer tiefe Gefühle für das schlanke, dunkelhaarige Mädchen hegte. Fast gewaltsam riss er sich von seinen Erinnerungen los.
»Und Abu Dun und seine Piraten? Du wirst sie töten, sobald wir in Sicherheit sind, habe ich Recht?«
»Nein, Frederic, das werde ich nicht tun«, sagte Andrej ernst. Da war sie wieder, diese Dunkelheit, die er manchmal in Frederic spürte und die ihn erschreckte. Der junge sprach in letzter Zeit ein bisschen zu viel vom Töten.
»Nur weil unsere Leben länger dauern als ihre und wir schwerer zu töten sind, sind wir nicht besser. Wir haben nicht das Recht, nach Belieben Menschen niederzumetzeln.«
»Piraten«, sagte Frederic verächtlich.
»Wir sind nicht ihre Richter«, sagte Andrej scharf.
»Willst du so werden wie die Männer in den goldenen Rüstungen?«
»Du bist doch auch ein Krieger, oder?«
»Ich bin ein Schwertkämpfer«, antwortete Andrej.
»Ich wehre mich, wenn ich angegriffen werde. Ich verteidige mich, wenn es um mein Leben geht. Ich töte, wenn ich es muss. Aber ich ermorde niemanden.«
»Und du glaubst, das wäre ein Unterschied?« Andrej seufzte.
»Du musst noch sehr viel lernen, Frederic«, sagte er.
»Zeit genug dazu habe ich ja«, sagte Frederic düster.
»Werde ich immer ein Kind bleiben?«
»Ich glaube nicht«, sagte Andrej.
»Ich bin gealtert, seit ... es geschah. Wir sind nicht unsterblich. Ich weiß nicht, wie alt wir werden, doch irgendwann werden auch wir sterben. Vielleicht in hundert Jahren, vielleicht in tausend ...« Er hob die Schultern.
»Hab keine Angst. Du wirst nicht für immer ein Kind bleiben.«
»Wer sagt, das mir das Angst macht?« Frederic grinste.
»Manchmal ist es ganz praktisch, für ein Kind gehalten zu werden. Die Menschen neigen dazu, Kinder zu unterschätzen.« Er wurde übergangslos wieder ernst.
»Werden sie mich auch davonjagen, wenn sie ... es bemerken?« Andrej hätte Frederic gerne belogen, schon um ihm den Schmerz zu ersparen, den auch er nur zu gut kannte. Aber er tat es nicht.
»Das weiß ich nicht,« sagte er ausweichend.
»Du hast es gerade selbst gesagt, erinnerst du dich? Sie fürchten alles, was sie nicht verstehen. Ich will dir nichts vormachen.« Er rang sich ein Lächeln ab.
»Aber du hast noch Zeit. Sicher einige Jahre, bis ...«
»Bis sie merken, das mit mir etwas nicht stimmt«, führte Frederic den Satz zu Ende. »Das ich mich nicht verletzen kann. Das ich niemals krank werde. Und das ich nicht altere.« Er sah Andrej durchdringend an.
»Was ist das, was mit uns geschieht, Andrej? Ein Segen oder ein Fluch?«
»Vielleicht bekommt man das eine nicht ohne das andere«, antwortete Andrej.
»Du siehst müde aus, Frederic. Du solltest ein wenig schlafen.«
»Du hast mir niemals gesagt, wie es dazu gekommen ist«, sagte Frederic, ohne auf seine Worte einzugehen.
»Wie bist du ... unsterblich geworden?« Andrej registrierte das Zögern in seiner Stimme. Frederic hatte etwas anderes sagen wollen, war aber im letzten Moment vor dem Wort zurückgeschreckt.
»So wie du«, sagte er.
»Ich? Aber ich weiß nicht, wie!«
»Erinnerst du dich an die Nacht, in der ich dich aus dem brennenden Gasthaus gerettet habe? Du warst schwer verletzt. So schwer wie noch nie zuvor in deinem Leben.« Frederic schauderte. Natürlich erinnerte er sich. Es war erst wenige Wochen her..
»Du hast lange auf Leben und Tod gelegen«, fuhr Andrej fort.
»Bei mir war es genauso. Ein dummer Unfall. Ich war leichtsinnig und fiel vom Pferd und ich hatte das Pech, mit dem Schädel auf einen Stein zu schlagen. Drei Tage lag ich auf Leben und Tod. Ich hatte hohes Fieber und habe wild fantasiert. Aber ich überlebte es. Und von diesem Tag an ...« Er hob die Schultern.
»Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht hat mein Körper eine Grenze durchbrochen. Vielleicht muss man sterben, um zurückzukommen und unsterblich zu sein.«
»Sterben.« Frederics Augen blickten für einen Moment ins Nichts. Andrej konnte sehen, wie ein Schaudern durch seinen schmalen Körper lief.
»Ich ... erinnere mich. Ich war an ... an einem dunklen Ort. Einem schrecklichen Ort. Vielleicht ... haben wir etwas von dort mitgebracht.«
»Vielleicht ist es auch ganz anders«, sagte Andrej. Auch er fröstelte, aber diesmal war es ganz eindeutig nicht die äußere Kälte, die ihn schaudern ließ. Frederics Worte erfüllten ihn mit einer Furcht, gegen die er fast wehrlos war.
»Es ist nur eine Idee. Meine Idee, Frederic. Vielleicht ist es nur eine Laune der Natur.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Frederic.
»Ganz gleich, was es auch ist, wir müssen damit leben«, sagte Andrej leichthin.
»Und weißt du, wir werden sehr viel Zeit haben, darüber zu reden.« Er machte eine Kopfbewegung zum Heck des Schiffes hin.
»Die Männer wissen nicht, das du ... so bist wie ich. Das sollte auch so bleiben.«
»Und Abu Dun?« Andrej war nicht ganz sicher.
»Ich glaube, er ahnt es«, sagte er.
»Aber er weiß es nicht und ich finde, das ist auch gut so. Du musst sehr vorsichtig sein, solange du noch an Bord dieses Schiffes bist. Gib Acht, das du dich nicht verletzt. Schon ein kleiner Schnitt könnte fatale Folgen haben.« Frederic runzelte die Stirn.
»Du meinst, weil wir uns praktisch nicht verletzen können, müssen wir besonders darauf achten, uns nicht zu verletzen?«
»Ganz genau das meine ich.« Andrej nickte.
»Das mag merkwürdig klingen, aber es ist lebenswichtig.«
»Das ist nur zu wahr«, sagte Frederic.
»Es klingt komisch.« Aber er lachte und nach einem kurzen Moment stimmte Andrej in dieses Lachen ein. Er rutschte ein Stück zur Seite und hob die Decke, die Abu Dun ihm gebracht hatte.
»Komm näher, junger Unsterblicher«, sagte er.
»Du bist vor Messern gefeit, aber nicht vor der Kälte. Ich weiß das, glaub mir. Ich habe zusammengerechnet schon mehr Jahre gefroren, als du alt bist.« Frederic kroch zu ihm unter die Decke und nachdem Andrej sie um seine Schulter gelegt hatte, schmiegte er sich enger an ihn. Nach einer Weile hörte er auf zu zittern und nach einer weiteren Weile schloss er die Augen und seine Atemzüge wurden langsamer. Er war eingeschlafen. Und wenigstens für diesen kurzen Augenblick war er nicht mehr als ein verängstigtes, frierendes Kind, das sich im Schlaf an die Schulter eines Erwachsenen kuschelte. Vielleicht waren es die letzten Tage seines Lebens, in denen er noch Kind sein durfte.