Heinz Konsalik
Der verhängnisvolle Urlaub
Kapitel 1
Paul Fabrici, 54 Jahre alt, ein Düsseldorfer, wie er im Buche stand, hatte sich von unten hochgearbeitet. Angefangen hatte er in einem kleinen Eckladen, wo schon von seinen Eltern einer Kundschaft, die in den zwei, drei umliegenden Straßen wohnte, Milch, Butter, Eier und Käse verkauft wurde. Die Eltern hatten über Jahrzehnte hinweg ihr Auskommen gehabt und keinen besonderen Ehrgeiz entwickelt, sich geschäftlich zu vergrößern. Anders Paul, ihr Sohn. Als ganz plötzlich und eigentlich zu früh der sogenannte Erbfall für ihn eintrat, weil die Eltern einem Schiffsunglück auf dem Rhein zum Opfer fielen, war er schon von diesem Tage an entschlossen, aus der Bude<, wie er den mit viel Tradition und wenig Umsatz gesegneten Eckladen insgeheim nannte, etwas zu machen. Fleißig gearbeitet hatten auch die Eltern, aber Paul, der Sohn, erkannte, daß damit allein auf keinen grünen Zweig zu kommen war. Schon zu Lebzeiten seines Vaters vertrat der Junge den Standpunkt, daß >das Ganze auch organisatorisch in die Hand genommen werden muß<. Jupp Fabrici, der Alte, war aber auf diesem Ohr immer schwerhörig geblieben. Er wollte sich nicht mehr aufladen als immer nur so viel, daß er >noch drüber weggucken konnte<.
Die Zusammenarbeit mit einer Bank war etwas, das ihn auch nicht interessierte. Und als ihm sein Sohn eines Tages vorgeschlagen hatte, das Käse-Sortiment mit französischen und italienischen Spezialitäten zu erweitern, hatte sich, vom Niederrheinischen ins Hochdeutsche übersetzt, folgender Dialog entwickelt:
«Was sagst du da, Junge? Französischen und italienischen? Wir führen doch schon holländischen!«
«Einzig und allein Edamer, ja.«
«Und zuweilen auch Gouda, Junge, vergiß den nicht.«
«Was ist das schon!«»Was das ist, fragst du? Mehr als genug ist das, mein lieber Junge. Siehst du denn nicht, wie ihn uns die Leute aus der Hand reißen?«
«Weil sie nichts anderes kriegen.«
«Nein, weil sie nichts anderes wollen — abgesehen vom deutschen. Aber wenn die den mal satthaben, greifen sie zum holländischen. Das war bei uns hier am Niederrhein schon vor hundert Jahren so und wird auch immer so bleiben. Wenn du was anderes denkst, dann verstehst du vom Geschäft nichts, dann hast zu zuwenig Erfahrung.«
«Und ich sage dir, die würden sich sehr rasch um einen echten Gorgonzola, zum Beispiel, reißen.«
«So, denkst du? Hast du schon einen echten Gorgonzola gegessen?«
«Nein.«
«Aber ich, als Soldat, beim Ringen um Sizilien mit den Amerikanern. Deshalb kann ich dir sagen, daß das nichts ist für den deutschen Geschmack. Zu scharf. Übrigens haben wir damals den Amis einen Kampf geliefert, von dem sie heute noch mit Hochachtung sprechen, wenn sie darauf kommen, weil — «
«Vater, ich bitte dich, fang nicht schon wieder mit deinem Krieg an…«
«Doch, das muß ich, weil euch diese Erfahrung fehlt. Du beweist es ja schon wieder mit deinem Gorgonzola. Siehst du, wir schreiben jetzt das Jahr 1950. Der Krieg ist erst wenige Jahre vorbei, und die Leute sind vollauf zufrieden mit unserem Edamer und Gouda. Warum auch nicht? Denkst du, die haben sich 1945 träumen lassen, wie gut es ihnen fünf Jahre später schon wieder geht. Fünf lächerliche Jährchen später! Die sind dankbar und denken nicht an italienischen Gorgonzola oder französischen Roquefort. Hast du Roquefort schon gegessen?«
«Nein, ich war ja nicht im Krieg.«
«Aber ich!«
«Vater, ich sehe — «
«Beim Kampf um den Atlantikwall — «»Ich sehe eine Zeit kommen, Vater, in der kein Mensch mehr von deinem Atlantikwall redet — aber von französischem und italienischem Käse. Deshalb solltest du ihn den Leuten jetzt schon anbieten, um der Konkurrenz voraus zu sein.«
«Konkurrenz? Welcher Konkurrenz?«
«Na, schon dem Milch- und Käseladen drei Ecken weiter.«
«Dem Karl Felchens? Bist du nicht gescheit, Junge? Dem mache ich doch keine Konkurrenz — und er nicht mir! Das kommt doch überhaupt nicht in Frage. Was sollte denn der von mir denken?«
«Vater — «
«Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht, das muß ich dir schon sagen, Junge. Weißt du, daß ich mit dem Karl Felchens zur Schule ging?«
«Ja, aber — «
«Und daß wir auch schon mal das gleiche Mädchen zusammen pussiert haben? Nicht deine Mutter, wohlgemerkt!«
«Aber das — «
«Und daß wir fast am selben Tag eingerückt sind, er zur Artillerie und ich zur Infanterie?«
«Ja, Vater, das hast du mir schon hundertmal erzählt.«
«Aber begriffen hast du das anscheinend immer noch nicht, was das heißt — daß nämlich der ein Mann ist, mit dem man das nicht machen kann, was dir vorschwebt. Der einzige Fehler, den der hat, ist, daß er kein Anhänger von Fortuna, sondern von Schalke 04 ist. Als Düsseldorfer müßte ihm natürlich die Fortuna höher stehen.«
«Ist gut, Vater, ich sage ja schon nichts mehr«, seufzte Fabrici junior und beendete das Gespräch.
Damals hatte er gerade das siebzehnte Lebensjahr vollendet und ahnen lassen, daß in geschäftlicher Hinsicht einiges in ihm steckte. Knapp sieben Jahre später passierte das erwähnte Schiffsunglück und machte den Jungen zum Vollwaisen und Erben der bescheidenen Fabricischen Hinterlassenschaft. Geschwister, mit denen zu teilen gewesen wäre, hatte er keine.
Was tat der Vierundzwanzigjährige, der er nun war, als erstes? Er heiratete. Das Mädchen, dem dieses Glück widerfuhr, mochte er zwar gern, aber mindestens ebenso wichtig war dabei für ihn, daß er seiner Ehefrau für die ganze Arbeit, die sie von früh bis spät im Geschäft zu leisten hatte, kein Gehalt zahlen mußte. Sie war eine geborene Beckes und wurde von Kindesbeinen an nur >Mimmi< gerufen. Nach zwei Jahren gebar sie ihrem Mann ein Töchterchen namens Karin. Paul Fabrici liebte die Kleine, doch er sah ein Problem darin, daß sich seine Frau nicht nur um das Geschäft, sondern auch um das Kind kümmern mußte.
Mit 36 Jahren besaß Paul Fabrici einen mittleren Supermarkt, der das ganze Viertel versorgte. Der alte Karl Felchens war auf der Strecke geblieben. Der Supermarktinhaber Fabrici spielte die maßgebliche Rolle im Schützenverein. Zudem saß er im Vorstand von Fortuna Düsseldorf, dem ruhmreichen Fußballverein. Als Geschäftsmann war er sozusagen ein großer Hai, der kleinere Fische gefressen hatte und noch fraß. Aber nun ließ er es langsamer angehen, was freilich nicht hieß, daß ihn etwa sein Betrieb nicht mehr interessiert hätte. Doch, doch, in demselben hielt er immer noch das Heft in der Hand, nur ließ er sich nicht mehr von ganztägiger Expansionshektik auffressen, sondern schaltete zwischendurch ab. Das hatte erstaunlicherweise zur Folge, daß er dafür bekannt wurde, ein gemütlicher Mensch zu sein. Ein neuer Paul Fabrici entwickelte sich, der alte geriet in Vergessenheit. Lediglich Leute wie Karl Felchens behielten ihn bis an ihr Grab so in Erinnerung, wie er ursprünglich gewesen war.
Immer gleich blieb sich Paul Fabrici in seinem Banausentum. Mit den Künsten hatte er auch als saturierter Mann nichts im Sinn. Ein Teil der Menschen, die reich werden, lassen sich malen, machen Museen finanzielle Zuwendungen oder rufen irgendeine Stiftung ins Leben. Paul Fabrici richtete sein Augenmerk nach wie vor uneingeschränkt auf Ein- und Verkaufspreise, Devisenkurse, Rentenmärkte usw. Das Unangenehme daran war, daß sich daraus mit den Jahren ein familiärer Dauerkonflikt ergab.
Mimmi Fabrici nämlich, Pauls Gattin, entwickelte sich im Gegensatz zu ihm mit wachsendem Wohlstand zu einer Dame, die höher hinaus wollte<. Sie sprach nur noch hochdeutsch, hielt dazu auch ihren Mann an und litt darunter, wenn dieser, was leider allzu oft vorkam, die peinigendsten Rückfälle in seinen niederrheinischen Dialekt erlitt. Ihrer Tochter Karin gestattete sie so etwas grundsätzlich nicht. Aus dem Geschäft hatte sie sich zurückgezogen, nachdem der Supermarkt begonnen hatte, reibungslos zu laufen. Im Anschluß daran setzte ein anderer Kampf für sie ein — der gegen ihr Gewicht. Sie aß zu gerne Schlagsahne, ruhte sich vom ungewohnten Nichtstun aus und las ihr als literarisch wertvoll empfohlene Romane, die ermüdeten. Sie schlief deshalb immer lange, und das ist nun mal bei Damen nicht gut für die Figur.