Benito Romana dirigierte mit geschlossenen Augen, was ihm ein entrücktes Aussehen gab. In Wirklichkeit hatte er Magendrücken von einem übergroßen Eisbein, das er zum Abendessen verschlungen hatte. Während die Töne des Tangos >Küß mich unter Rosenblät-tern<, der eines ehrwürdigen Alters war, durch die lampionerleuchtete Nacht schwebte, trat das erste Mädchen aus dem Pavillon heraus, bestieg das Podium und schritt lächelnd, ein Täfelchen mit der Nummer 1 in der Hand, über den mit roten Teppichen belegten Laufsteg.
An den Tischen begann ein Tuscheln und Flüstern. Stimmzettel knisterten. Brillen wurden geputzt. Männer beugten sich nach vorn. Das Wasser lief ihnen im Mund zusammen. Wütende Blicke ihrer Gattinnen trafen sie. Besonders die dickeren der Damen im Publikum erblaßten vor Neid. Das Mädchen, an dem sich ihre Mißgunst entzündete, war gertenschlank, graziös, kaum 18 Jahre alt. Mit langen Beinen tänzelte sie über den Laufsteg. Frau Berta Bauer, eine Notarsgattin aus Kleve, die auch einmal nur 55 Kilo gewogen hatte, zischte ihrem Mann ins Ohr:»Paß auf, daß dir die Augen nicht aus den Höhlen fallen.«
«Was?«
«Du sollst nicht solche Stielaugen machen!«
«Berta«, sagte daraufhin der Notar,»wozu sind wir denn hier?«
«Laß die ebenfalls vier Kinder kriegen, dann hat sich's bei der auch ausgetänzelt.«
«Drei.«
«Was?«
«Drei Kinder. Du sprichst doch von denen, die du gekriegt hast — oder nicht? Wie kommst du auf vier?«
«Du vergißt wohl die Abtreibung, zu der du mich gezwungen hast, als wir noch nicht verheiratet waren? Auf die stand damals noch Zuchthaus. Zählt die für dich nicht?«
«Psst! Bist du verrückt?«
«Ob ich was bin?«
«Nicht so laut, ich bitte dich!«
Frau Bauer verstummte. Ihr Ziel hatte sie erreicht. Den Stielaugen ihres Gatten waren für den weiteren Abend Schranken gesetzt.
Das zweite Mädchen auf dem Laufsteg löste zwischen einem Paar aus München Konflikt aus. Die Urlaubsreise an die See hatte, schon ehe sie angetreten worden war, der Eintracht der beiden Schaden zugefügt gehabt. Und nun setzte sich das fort.
«Franz Joseph«, sagte sie,»gib mir eine Zigarette, bitte.«
Er reagierte nicht. Sein Blick war wie gebannt auf das Mädchen Nr. 2 gerichtet.
«Gib mir eine Zigarette, Franz Joseph.«
Wieder nichts.
«Franz Joseph!!«
«Ja?«
Nun hatte sie sich also bemerkbar machen können. Kurz blickte Franz Joseph zu ihr hin, schaute aber gleich wieder vor zum Laufsteg.
«Ich möchte eine Zigarette.«
Er zeigte auf den Tisch, ohne den Blick vom Laufsteg abzuwenden.
«Nimm dir eine, da liegt doch die Packung. Oder hast du keine Augen im Kopf, Maria?«
Maria preßte die Lippen zusammen, grub eine Zigarette aus der Packung heraus und klemmte sie sich zwischen Zeige- und Mittelfinger. Der Auftritt des Mädchens Nr. 2 war zu Ende, der des Mädchens Nr. 3 folgte. Franz Joseph war nicht minder gebannt als vorher.
«Spitze!«sagte er halblaut zu sich selbst.
Maria räusperte sich.
Als sie damit nicht den gewünschten Erfolg erzielte, sagte sie wieder:»Feuer, bitte.«
Franz Joseph war wieder taub.
«Franz Joseph!«
«Was ist denn schon wieder?«
«Feuer!«
Er warf ihr das Feuerzeug in den Schoß. Wortlos.
Maria sagte, nachdem sie sich gezwungenermaßen selbst bedient und einen erbitterten, tiefen Zug genommen hatte:»Danke.«
«Bitte.«
Das war kein Wechsel von Höflichkeitsfloskeln, sondern schon eher ein Schlagabtausch.
Es blieb nicht lange still zwischen den beiden, und Maria war wieder zu vernehmen.
«Mir wird es kühl.«
«Habe ich dir nicht gesagt, daß du dir eine Strickjacke mitnehmen sollst? Habe ich dir das nicht gesagt?«
«Eine Strickjacke zum Abendkleid — dieser Vorschlag konnte auch nur von dir kommen!«
«Dann mußt du dich eben jetzt mit deinem Schal begnügen. «Sein Mund verzog sich spöttisch.»Lang genug ist er ja.«
Das zitierte Stück wies in der Tat beträchtliche Ausmaße auf. Seine Enden reichten von den Schultern, um die sich Maria ihn gelegt hatte, bis hinunter auf den Sandboden. Trotzdem schien er den Anforderungen, die momentan an ihn gestellt wurden, nicht gerecht zu werden, denn Maria sagte:»Der Schal ist zuwenig.«
Franz Joseph zuckte die Achseln. Dann kann ich dir auch nicht helfen, hieß das.
Dem Laufsteg wurde inzwischen das Mädchen Nr. 4 zur Zierde, dann die Konkurrentin Nr. 5.
Die Brise, die vom Meer her wehte, ließ neben der Münchnerin auch noch einige andere dünngewandete Damen erschauern. Sie gaben das durch entsprechende Bemerkungen zu erkennen. Das Gegenmittel, auf das ein Kavalier aus Nürnberg verfiel, war nicht neu.»Bestell dir einen Schnaps«, sagte er zu seiner Gattin.
Maria machte ihren Franz Joseph auf ihre Leidensgenossinnen aufmerksam, indem sie ihm mitteilte:»Ich bin nicht die einzige, die friert.«
«Geteiltes Leid ist halbes Leid«, tröstete er sie. Das war blanker Zynismus, an dem auch noch festzuhalten er sich sogar nicht scheute, indem er fortfuhr:»Das verdankst du deiner Meeresbrise, von der du mir zu Hause in München vorgeschwärmt hast. Die ewigen Berge, in die ich wieder fahren wollte, hingen dir zum Hals heraus, sagtest du. Oder sagtest du das nicht?«
«Deine ewigen Berge hängen mir auch jetzt noch zum Hals heraus.«
«Dann beschwer dich nicht über die Meeresbrise, nach der du dich gesehnt hast. Genieße sie, statt dich über sie zu beklagen.«
Maria saß in der Falle, sie hatte keine andere Wahl, als hier auszuharren. Franz Joseph wandte seine Aufmerksamkeit wieder ungeteilt dem Laufsteg zu.
Größere Bewegung kam in das Publikum, als sich die Konkurrentin Nr. 8 präsentierte — eine üppige Blondine. Animierte Herren schlugen die Beine übereinander und zwinkerten sich gegenseitig zu, als die Kapelle zufällig gerade auch noch den Schlager >Süße Früchte soll man naschen< spielte. Dieser Tango war zwar auch wieder uralt, aber darauf mußte man bei Benito Romana immer vorbereitet sein.
Anders als die Männer reagierten natürlich wieder die Frauen, als die Blondine frech und aufreizend über den Laufsteg wippte und kokett in die Männeraugen blickte, die sie von unten her anstarrten. Unter den Gattinnen aller Schattierungen wurde der Neid sichtbar, der sie gelangweilte Mienen zeigen oder sie uninteressiert an ihren Gläsern nippen ließ.
Die Kellner vergaßen zu servieren. Die Blondine traf den Nerv vieler. Sogar der Baron v. Senkrecht fühlte sich von ihr angesprochen, obwohl sie eine eindeutig ordinäre Person war — oder gerade deshalb.
«Wissen Sie, an wen die mich erinnert?«sagte er zu Manfred Barke, dem Filmregisseur.»An eine Sizilianerin im Krieg.«
«Sind Sizilianerinnen nicht alle schwarz wie die Sünde?«antwortete Barke grinsend.
«Doch. «Der Baron nickte zum Laufsteg hinauf.»Aber erstens wissen Sie nicht, ob die dort oben das nicht auch ist. Und zweitens sprach ich im Moment nicht das Haar derselben an.«
«Sondern?«
«Den Hintern.«
Der Baron war ganz außer sich. Er sandte der Üppigen, als sie den Laufsteg verließ, feurige Blicke nach und fuhr fort:»Toll! Wirklich toll, mein lieber Barke! So etwas an der Kandare — Herrgott, da heißt es, geraden Sitz bewahren und nicht — «
Er brach ab, winkte mit der Hand.
«Na, Sie wissen schon«, schloß er. Und als Barke grinsend nickte, setzte er noch einmal hinzu:»Im Frieden gilt es allerdings in solchen Gegenden vorsichtig zu sein. Die Weiber dort haben männliche Anverwandte — Väter, Brüder —, die mit dem Messer schnell zur Hand sind, wenn sie die Ehre ihrer Tochter oder Schwester angetastet wähnen. Im Krieg kannten wir freilich diese Probleme nicht. Schließlich hatten wir ja die überlegenen Waffen in Händen.«