Karin stand inmitten dieses Trubels ziemlich verlegen da und blickte über die Köpfe hinweg zu dem Sonnenschirm, an dem Walter Torgau gestanden hatte, als sie ihn zornig verlassen hatte und zum Hotel um ihren Bikini gerannt war.
Der Platz war leer. Karins Blick irrte über besetzte Tische und verlassene, über leere Stühle und umgestürzte, er wanderte über die Menge der klatschenden, lachenden, rufenden Zuschauer, die das Podium umstanden, suchte und fand noch einmal den einzigen Sonnenschirm, den zu schließen man vergessen hatte, und kehrte traurig zu Johannes M. Markwart zurück.
Er ist gegangen, dachte sie. Ich habe zuviel aufs Spiel gesetzt. Weshalb eigentlich? Ich wollte wieder einmal mir selbst etwas beweisen. War es das wert? Er ist fort. Sehe ich ihn je wieder? Warum frage ich mich das? Oben auf dem Laufsteg redete ich mir noch ein, daß er mich nicht interessiert. Was hatte ich gegen ihn?
Daß er sich in fremde Strandkörbe setzt.
Na und? Tun das nicht andere auch? Muß ein solcher Korb leer herumstehen?
Daß er mir Vorschriften machen wollte.
Na und? Vielleicht hat er das gar nicht so ernst gemeint.
Daß er sich nicht schämt, in einem solchen Bademantel herumzulaufen.
Bin ich verrückt? Ist der Bademantel wichtig — oder jener, der drinsteckt?
Daß er mit seinem Onkel angibt.
Hat er doch gar nicht. Er hat gesagt, daß er mit dem Kurdirektor verwandt ist, nachdem ich ihm angedroht hatte, mich über ihn zu beschweren. Das war sogar seine Pflicht. Wenn er mir das nicht gesagt hätte, wäre ich nämlich ganz bestimmt zum Kurdirektor gelaufen, um meine Beschwerde loszuwerden, und hätte nur eine — bestenfalls höfliche — Abfuhr erlebt. Ich wäre blamiert gewesen. Davor wollte er mich bewahren. Statt ihm also dankbar zu sein, stieß ich ihn vor den Kopf.
Ich Schaf.
Ich -
«Gnädiges Fräulein!«
Die Stimme Markwarts. Karin schreckte auf.
«Ja?«»Sie hören mir ja gar nicht zu. Wir wissen noch nicht einmal, wer Sie sind.«
«Entschuldigen Sie.«
«Würden Sie mir Ihren Namen verraten?«
«Karin Fabrici.«
«Woher kommen Sie?«
«Aus Düsseldorf.«
«Wunderbar! Eine Rheinländerin! Ich könnte mir vorstellen, daß Sie auch schon im Karneval eine ähnliche Rolle gespielt haben wie hier.«
«Nein.«
«Eigentlich hätte ich ja noch ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen — Sie wissen schon, warum. «Er lächelte verzeihend.»Aber.«
Er verstummte, winkte nachsichtig mit der Hand. Karin nickte dankbar.
«Ich bin müde«, sagte sie.
Das konnte Johannes M. Markwart nicht ernst nehmen. Eine Tasse Kaffee werde das rasch ins Lot bringen, meinte er.
Karin schüttelte den Kopf. Nein, hieß das.
«Doch, doch«, blieb Markwart hartnäckig, faßte sie unter und bat sie, die Herrschaft über ihr Königreichs wie er sich pathetisch ausdrückte, anzutreten.
Unwille zeigte sich in Karins Miene.
«Nein«, wiederholte sie,»ich bin wirklich müde. Lassen Sie mich in mein Hotel gehen. Morgen können Sie über mich verfügen. Jetzt aber möchte ich schlafen.«
«Aber Gnädigste, das geht doch nicht!«Markwart hob entsetzt die Arme.»Der Film, die Reporter, das Publikum, alle wollen Sie sehen und — «
«Morgen, alles morgen«, unterbrach ihn Karin Fabrici, ließ ihn stehen, stieg mit raschen Schritten die Stufen des Podiums hinunter, ging vorbei an erstaunten Männern, die sich genähert und gehofft hatten, ihre Bekanntschaft zu machen, und schlug die Richtung zu ihrem Hotel ein, in dessen Eingang sie bald verschwand, gefolgt von den Blicken all der Sprachlosen, denen sie entwichen war. Auch der Portier im Hotelinneren, an dem sie im Bikini — und deshalb etwas geniert — vorübereilte, fand keine Worte. Er stand mit offenem Mund da und war sich im klaren darüber, daß er das größte Wunder seit Jahren erlebte — eine frisch gewählte >Miß Nicker-oog<, die ihre Ruhe haben wollte.
In ihrem Zimmer legte sich Karin so, wie sie war, auf das Bett und starrte empor zur Decke. Sie fragte sich, was mit ihr los war. Gefühle, die sie bisher nicht gekannt hatte, machten ihr zu schaffen. Sie spürte ihr Herz und verstand das nicht. Natürlich war sie realistisch genug, ihre Unsicherheit und Ungewißheit mit jenem Mann in Zusammenhang zu bringen, den sie doch kaum kennengelernt hatte, den sie sich abwechselnd selbst abzulehnen befahl und dann wieder in wachsendem Maße innerlich an sich zog. Aber daß ihr ganzer Zustand etwas völlig Unerwartetes war, etwas Verrücktes, daran zweifelte sie jedenfalls nicht.
Am besten wäre es, sagte sie sich, ihn nicht wiederzusehen. Dann würde es keine Probleme geben. Probleme wünschte sie sich nämlich keine.
Karin Fabrici hatte nichts dagegen, mit einem Mann zu schlafen. Dazu sei für sie die Zeit einfach reif, hatte sie schon in Düsseldorf geglaubt. Das müsse jetzt — oder bald — über die Bühne gehen. Ein modernes junges Mädchen könne sich solchen Entwicklungen nicht verschließen.
Aber Liebe? Im Zusammenhang mit Defloration? Gleich beim erstenmal?
Nein — nur das nicht!
Genau das verstand nämlich Karin unter >Problemen<.
Sie wollte sich doch nicht selbst mit ihrer Großmutter in einen Topf werfen, die vor urdenklichen Zeiten.
Was denn?
Nun, die vor urdenklichen Zeiten, so ging das Gerücht in der Familie Fabrici, den ersten Mann, mit dem sie schlief, geheiratet hatte, und zwar vorher schon, weil sie ihn liebte. Heiliger Strohsack! Die arme Frau!
Karin Fabrici, die vielversprechende Enkelin jener Unglücklichen, führte wieder ein lautloses Selbstgespräch.
Wozu bin ich denn hierhergekommen nach Nickeroog? Warum fuhr ich nicht mit den Eltern nach Kärnten?
Klare Sache, wozu. Dazu braucht es aber einen Mann. Die Eltern wären dabei nur im Wege gewesen. Das habe ich doch schon oft genug erlebt.
Einen Mann, ja, den braucht es dazu.
Einen richtigen.
Keinen falschen; nicht den nächstbesten; keinen, der einen Buckel hat, schielt oder sich nicht wäscht.
Aber auch keinen allzu richtigen.
Keinen, der >Probleme< mit sich bringt.
Keinen Walter Torgau.
Also ist es wirklich am besten, ihn nicht wiederzusehen. Doch wie soll das gehen? Nickeroog ist zu klein, als daß man sich nicht unvermeidlich immer wieder über den Weg laufen würde. Es sei denn -
Karin empfand einen bösen Stich.
Es sei denn, er ist abgereist.
Nein!
Doch!
Weiß ich denn, ob sein Urlaub nicht schon zu Ende ist?
Oder ob er ihn nicht vorzeitig abbricht, weil ich ihn vor den Kopf gestoßen habe?
Aber dann müßte er mich.
Was denn?
Lieben?
Lieben.
Karin saß plötzlich aufrecht im Bett, wußte nicht, wie das vor sich gegangen war, schlang die Arme um die angezogenen Knie und setzte ihren inneren Monolog fort.
Ich bin verrückt.
Wie käme er dazu, mich zu lieben?
Mich Kratzbürste.
Und überhaupt, er kennt mich so wenig wie ich ihn. Er weiß nicht, woher ich komme und was ich mache.
Was mache ich denn überhaupt? Ich liege meinem Vater auf der Tasche, habe zwar das Abitur, aber seitdem tat sich eigentlich nichts mehr. Zwei Semester Betriebswirtschaft. Abgebrochen. Vater hatte ans Geschäft gedacht. Spätere Übergabe an mich und so. War aber nichts. Mutter erhofft heute noch ein Studium der Literaturwissenschaft von mir. Dies wäre der Traum ihres Lebens, sagte sie, nachdem ihr ein solches Studium versagt geblieben sei. Vater meint aber, für mich komme nun nur noch eine ordentliche Heirat in Frage; ein brauchbarer Schwiegersohn für ihn, ein Juniorchef für die Firma — der Peter Krahn.