Karin war erschüttert. Eine Ungeheuerlichkeit stand ihr vor Augen. Mit einem Schlag begriff sie den Ernst der Lage, wenn sie sich auch den Grund nicht erklären konnte und wohl nie würde erklären können.
«Was will er denn überhaupt?«fragte sie.
«Daß du sofort mit ihm nach Hause kommst.«
«Dann soll er mir das in ruhiger Form erklären, und ich überlege es mir. Wenn er mich aber anfaßt, ist alles vorbei, und er sieht mich nie wieder.«
«Karin!«rief Mimmi Fabrici entsetzt in die Muschel.»Und ich? Was ist mit mir? Soll dadurch auch ich mein Kind verlieren?«
«Wir können uns treffen.«
«Nein!«
«Du mußt einsehen, Mutti, daß ich unter solchen Umständen nicht mehr nach Hause kommen könnte.«
«Wenn das passiert«, fing Mimmi am Telefon zu weinen an,»sterbe ich. Und du wärst dafür verantwortlich, Karin.«
«Ich?«
«Ja, du.«
«Aber — «
«Weil du ihm nicht nachgibst. Nur einmal nicht nachgibst. Darum geht's doch.«
«Mutti«, seufzte Karin.
«Ein einziges Mal. Diesmal eben.«
«Mutti.«
«Aber ich kann dich dazu nicht zwingen«, schluchzte Mimmi.»Und jetzt muß ich auflegen, ich bin nicht mehr imstande — «
«Einen Moment, Mutti!«
«Ja?«
«Vater ist ein Scheusal!«
«Das will ich nicht bestreiten, mein Kind, aber wir lieben ihn beide, und wenn du das wahrmachst, was du angedroht hast, bringst du auch ihn ins Grab, darüber mußt du dir im klaren sein. Er könnte es nicht verwinden.«
«Auch du bist ein Scheusal, Mutter!«
«Nein, mein Kind.«
«Eine Erpresserin!«
«Die dich abgöttisch liebt, genau wie dein Vater.«
«Eines sage ich dir, Mutter.«
«Was?«
«Wenn ich nach Hause komme, sperre ich mich drei Tage in mein Zimmer ein und spreche kein Wort mit euch beiden.«
«Karin!«jubelte Mimmi.»Von mir aus vier Tage, aber ich sehe die Möglichkeit nicht, daß du diese Idee verwirklichen kannst.«
«Wer will mich daran hindern?«
«Dein Vater.«
«Schon wieder!«
«Du kennst ihn doch. Gewalttätig, wie er ist, wird er deine Tür einrennen, um dich an seine Brust zu ziehen.«
«Ach Mutti«, seufzte Karin wieder.»Ihr zwei.«
«Noch eine letzte Bitte, mein Kind.«
«Welche?«
«Sag deinem Vater nicht, daß ich dich angerufen und präpariert habe. Er ist ein Scheusal, weißt du. Hast du doch selbst gesagt?«
«Du bist auch eines.«
«Sonst würde ich doch nicht zu deinem Vater passen.«
«Wiedersehen, Mutti.«
«Wiedersehen, mein Liebling, ich küsse dich.«
«Ich dich auch.«
Karin legte auf und neigte dazu, noch einmal ins Bett zu gehen und dieses Telefongespräch zu überdenken. Vater war also im Anmarsch, als eine Art wildgewordener Stier. Vorsicht war demnach geboten, wenn Mutter nicht übertrieben hatte. Diesen Anschein hatte es jedenfalls nicht gehabt.
Ins Bett ging Karin nicht mehr. Ich bin ja noch gar nicht angezogen, fiel ihr ein. Außerdem war sie durch das läutende Telefon unterbrochen worden, als sie im Bad Toilette gemacht hatte. Dieses Werk mußte also auch noch vollendet werden.
Was mache ich dann? fragte sich Karin. Gehe ich noch ans Meer, zum Baden? Besser nicht, mein leerer Strandkorb würde nur schmerzliche Erinnerungen in mir aufwühlen. Erinnerungen an ihn.
Auf jeden Fall, sagte sie sich, muß ich beim Portier hinterlassen, wo ich zu erreichen bin, wenn Vater eintrifft.
Sie legte nur hauchdünn Puder auf, zog die Lippen nach, schlüpfte in ein hübsches Leinenkleid und sah aus wie die Karin Fabrici vor dem ganzen Miß-Rummel.
Also, was mache ich jetzt? fragte sie sich noch einmal. Und dann überstürzten sich die Ereignisse.
Das Telefon läutete wieder.
«Ja?«
«Gnädiges Fräulein«- der Portier war das —»ein Herr ist bei mir, der fragt, ob er Sie sehen kann.«
Schon Vater? Das ging aber schnell, dachte Karin und sagte:»Natürlich. Schicken Sie ihn rauf.«
«Auf Ihr Zimmer?«
«Ja. Wohin sonst?«
«Sie kommen nicht herunter?«
Karin wurde ärgerlich.
«Was wollen Sie damit sagen? Hat man hier im Hause vielleicht etwas dagegen, daß mein Vater zu mir auf mein Zimmer kommt?«
«Ihr Vater?«
«Ja. Hat er Ihnen das nicht gesagt?«
«Nein. Ich hätte ihm das auch nicht geglaubt.«
«Wieso nicht?«
«Weil er Sie dann wohl etwas zu früh als Tochter hätte bekommen müssen, gnädiges Fräulein«, antwortete der Portier, und man konnte fast durch das Telefon sehen, wie er sich dabei zu grinsen erlaubte.
«Herr Kabel«, erklärte Karin nun etwas umständlich,»ich erwarte meinen Vater, daher das Mißverständnis, das sich zwischen uns an-scheinend ergeben hat. Der Herr, der sich bei Ihnen befindet, ist also ein anderer?«
«Ja.«
«Und warum sagen Sie mir nicht, wer er ist?«
«Verzeihen Sie, das wollte ich ja, aber Sie ließen es nicht dazu kommen, gnädiges Fräulein.«
«Sein Name?«
«Krahn.«
«Peter Krahn?«fragte Karin überrascht.
«Einen Moment, seinen Vornamen hat er mir noch vorenthalten.«
Karin vernahm, wie der Hörer abgelegt wurde, wie zwei Männer undeutlich ein paar Worte miteinander wechselten, und dann kam auch schon wieder die Stimme des Portiers.
«Gnädiges Fräulein.«
«Ja.«
«Ihre Vermutung trifft zu. Es handelt sich um Herrn Peter Krahn.«
«Rauf mit ihm!«rief Karin spontan, korrigierte sich jedoch rasch:»Ich wollte sagen, schicken Sie ihn bitte herauf zu mir, Herr Kabel. Auch gegen ihn bestehen keinerlei Bedenken. Wir sind eine Art Nachbarskinder. Er wird mir nichts antun.«
«Sehr wohl, gnädiges Fräulein.«
Als Peter Krahn den Lift verließ, stand Karin schon vor ihrem Zimmer auf dem Flur und winkte ihm. Sie freute sich sichtlich und nahm ihn mit der Frage in Empfang:»Was machst du denn hier, Peter?«
Seine Verlegenheit war nicht zu übersehen. Erst als sich die Tür zu Karins Zimmer hinter ihnen geschlossen hatte und er auf einem Stuhl saß, antwortete er:»Ich komme von deinem Vater.«
«Von wem? Der wollte doch selbst kommen?«
«Dein Vater?«
Bei dem Dialog der beiden war einer erstaunter als der andere.
«Ja«, nickte Karin.
«Wer sagt das?«fragte Peter.
«Meine Mutter. Sie hat mich vor einer halben Stunde angerufen und mir mitgeteilt, daß er praktisch jeden Augenblick hier auftauchen kann.«
Peter schüttelte den Kopf.
«Das verstehe ich nicht.«
«Warum nicht?«
«Ich sage dir doch, daß er mich zu dir geschickt hat.«
«Wann?«
«Vor zwei Tagen… nein, vor drei… oder doch… ich bin schon ganz durcheinander. «Er brach ab, machte eine wegwerfende Geste und sagte:»Ist ja egal. Jedenfalls war das seine Idee.«
«Und was sollst du hier bei mir?«
«Dich holen.«
«Mich holen?«
Er nickte.
«Mit welchem Recht?«fragte ihn Karin.
Er blickte zu Boden. Dort blieb sein Blick haften.
«Das mußt du deinen Vater fragen«, brachte er schließlich hervor.
Karin hatte nicht lange nachzudenken. Ein Licht ging ihr auf. Das war gar nicht schwierig aufgrund der zahlreichen einschlägigen Gespräche, die schon in der Familie Fabrici stattgefunden hatten.
«Etwa mit dem Recht meines zukünftigen Mannes?«fragte sie.
«Ja«, erwiderte er, aufschauend und erleichtert davon, daß Karin ihm dieses Geständnis abgenommen hatte.
«Unsinn!«Karin glaubte, daß der Augenblick gekommen war, ein für allemal ein klärendes Wort zu sprechen, auch wenn dies Peter schmerzen sollte.»Wir sind nicht füreinander geschaffen. Mein Vater macht sich diesbezüglich absolut falsche Vorstellungen. Ich finde dich furchtbar nett, Peter, sehr sympathisch, aber lieben kann ich dich nicht. Ich hoffe, du bist mir nicht böse; wenn ich dir das so unumwunden sage, doch es geht nicht anders. Ich möchte keine Illusionen — falls es sie gibt — in dir nähren.«