»Verflucht! Sie müssen unbedingt dafür sorgen, dass Pitt und der andere an Ort und Stelle bleiben. Wie heißt der noch?«
»Gower.«
»Also, auch Gower. Stellen Sie den beiden so viel Geld zur Verfügung, wie sie brauchen. Ich sorge dafür, dass niemand Einwände dagegen erhebt.«
»Ja«, sagte Narraway. Croxdales letzte Worte erstaunten ihn, denn er hatte in Bezug auf die ihm zugewiesenen Gelder stets freie Hand gehabt und nach Gutdünken darüber verfügen können.
Croxdale spitzte die Lippen und beugte sich noch ein wenig weiter vor. »Das ist nicht selbstverständlich, Narraway«, sagte er mit bedeutungsvoll gehobener Stimme. »Wir haben uns mit der Verwendung Ihnen für frühere Fälle zur Verfügung gestellter Gelder beschäftigt, wie Sie vermutlich wissen werden. « Er schlang seine Finger ineinander, sah einen Augenblick auf seine Hände und hob dann rasch den Blick wieder. »Es sind im Zusammenhang mit Mulhares Tod einige unangenehme Fragen gestellt worden, und ich fürchte, wir werden Antworten darauf finden müssen.«
Narraway war überrascht. Er hatte nicht gewusst, dass die Sache schon so weit oben angekommen war, bevor er auch nur eine Möglichkeit gehabt hatte, sich damit zu beschäftigen und seine Schuldlosigkeit zu beweisen. Ob Austwick dahintersteckte? Der Teufel mochte ihn holen!
»Das versteht sich von selbst«, sagte er. »Ich habe seinerzeit bestimmte Kontobewegungen geheim gehalten, um Mulhare zu schützen. Man hätte ihn sofort umgebracht, wenn bekannt geworden wäre, dass er Geld aus England bekommen hat.«
»Ist denn nicht genau das passiert?«, fragte Croxdale betrübt.
Einen Augenblick lang dachte Narraway daran, das zu bestreiten, doch es war nicht seine Art, nach Ausflüchten zu suchen. Es gab in seinem Leben genug Belastungen, und er war nicht bereit, sich vor Croxdale seiner moralischen Verantwortung zu entziehen. »Doch, leider.«
»Wir haben den Mann im Stich gelassen, Narraway«, sagte Croxdale. In seiner Stimme lag Trauer.
»Ja.«
»Wie ist es dazu gekommen?«, fasste Croxdale nach.
»Man hat ihn verraten.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht. Sobald die Sache mit der sozialistischen Bedrohung ausgestanden ist, werde ich mich darum kümmern und zusehen, dass ich es herausbekomme, sofern das in meinen Kräften steht.«
»Zweifeln Sie etwa daran?«, fragte Croxdale freundlich. »Haben Sie keine Vorstellung davon, wer hier in London dahinterstecken könnte?«
»Nein.«
»Aber Sie haben gesagt, man habe den Mann verraten«, beharrte Croxdale. »Ich nehme an, Sie haben das Wort mit Bedacht gewählt. Bereitet Ihnen das keine Sorgen? Wem können Sie bei Problemen trauen, die Irland betreffen? Von denen haben wir weiß Gott mehr als genug.«
»In erster Linie muss unser Augenmerk gegenwärtig den sozialistischen Revolutionären auf dem europäischen Kontinent gelten, Sir.« Auch Narraway beugte sich ein wenig weiter vor. »Wir müssen mit ausgedehnter Gewalttätigkeit rechnen. Leute wie Linsky, Meister, la Pointe, Corazath sind allesamt rasch mit Schusswaffen und Sprengstoff bei der Hand. In ihren Augen sind ein paar Tote kein zu hoher Preis für mehr Gleichheit
»Und erscheint Ihnen das wichtiger als Verrat in Ihren eigenen Reihen?«, erkundigte sich Croxdale sichtlich erstaunt. Er ließ die Frage zwischen ihnen stehen. Es war klar, dass er eine Antwort darauf erwartete.
Auch wenn Narraway Mulhares Tod als tragisch empfunden hatte, hielt er dessen Aufklärung doch für weniger dringend als die Notwendigkeit, etwas gegen das drohende Unbekannte zu unternehmen. Er wusste, mit wie großer Umsicht er die Herkunft des Geldes verschleiert hatte, denn er kannte die Menschen, vor denen Mulhare Angst gehabt hatte. Er wusste nicht, auf welche Weise jemand es fertiggebracht hatte, das Geld zurück auf sein Konto zu leiten, wie jetzt behauptet wurde. Vor allem aber hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, wer dahinterstecken konnte, und ihm war nicht klar, ob es sich dabei um das Ergebnis von Unfähigkeit oder um eine absichtliche Manipulation handelte, die darauf abzielte, ihn als Dieb hinzustellen.
»Ich bin noch nicht sicher, ob es sich wirklich um Verrat handelt, Sir. Vielleicht habe ich das Wort vorschnell benutzt«, sagte er mit betont gleichmütiger Stimme, ohne verhindern zu können, dass sie ein wenig rau klang. Er hoffte, dass Croxdales Ohren weniger empfindlich waren als seine eigenen und er nichts davon mitbekam.
Dieser sah ihn aufmerksam an. »Und was wäre dann das richtige Wort?«
»Unfähigkeit«, gab Narraway zur Antwort. »Wir haben die Herkunft des Geldes mit größter Sorgfalt verschleiert, damit niemand von Irland aus es zu uns zurückverfolgen konnte. Jede einzelne der Transaktionen sieht aus wie ein gewöhnlicher Überweisungsvorgang bei einem Handelsgeschäft.«
»Jedenfalls haben Sie das bisher angenommen. Trotzdem ist Mulhare umgebracht worden. Wo befindet sich das Geld gegenwärtig ?«
Narraway hatte gehofft, ihm das nicht sagen zu müssen, aber vielleicht war es von Anfang an unvermeidlich gewesen. Unter Umständen wusste Croxdale das auch bereits, und seine Frage war nichts als eine ihm bewusst gestellte Falle. »Austwick hat mir gesagt, dass es sich auf einem Konto befindet, das ich schon längere Zeit nicht mehr benutzt habe«, gab er zur Antwort. »Ich weiß nicht, durch wen es dorthin gelangt ist, werde das aber feststellen.«
Croxdale schwieg eine Weile. »Das tun Sie bitte, und zweifellos werden Sie unwiderlegliche Beweise vorlegen. Es eilt, Narraway. Wir brauchen Sie und Ihre Fähigkeiten für diese verfluchte Sozialistengeschichte. Es sieht ganz so aus, als ob die Sache ernst wäre.«
»Ich kümmere mich um das Geld, sobald wir die Pläne von Wests Mördern in Erfahrung gebracht und sie vereitelt haben«, gab Narraway zurück, während ihn ein kalter Schauer überlief. »Mit etwas Glück bekommen wir unter Umständen sogar einige der Leute zu fassen und können sie hinter Schloss und Riegel bringen.«
Croxdale hob den Blick und sah ihn scharf an. Mit einem Mal war er nicht mehr der liebenswürdige Herr, der wie ein tapsiger Bär wirkte; er kam ihm eher vor wie ein Tiger, dessen innere Anspannung sich hinter äußerlicher Gelassenheit verbarg. »Glauben Sie etwa, dass sich diese Leute von ihrem Vorhaben abhalten lassen, sobald es auf ihrer Seit eine Handvoll Märtyrer gegeben hat? Da hätte ich mich in Ihnen aber sehr getäuscht. Idealisten gedeihen umso besser, je mehr Opfer für ihre Sache gebracht werden müssen, und wenn das in aller Öffentlichkeit geschieht und dramatisch verläuft, ist ihnen das gerade recht.«
»Das ist mir bekannt.« Die Geringschätzung seiner Urteilskraft durch Croxdale ärgerte ihn. »Ich denke nicht im Traum daran, denen den Gefallen zu tun und ihnen Märtyrer zu liefern. Ehrlich gesagt denke ich auch nicht daran, die Notwendigkeit gesellschaftlicher Reformen und eines gewissen Maßes an Veränderungen zu bestreiten. So etwas aber muss in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Menschen im Lande geschehen, man darf es ihnen auf keinen Fall durch eine Handvoll Fanatiker aufzwingen. Bei uns ist es immer wieder zu Veränderungen gekommen, aber Schritt für Schritt. Man sehe sich nur die Geschichte der Revolutionen des Jahres 1848 an. Damals war England das einzige größere Land Europas, in dem es keine Aufstände gegeben hat. Und wo waren zwei Jahre später all die Idealisten, die auf die Barrikaden gestiegen waren? Wo waren all die um einen so hohen Blutzoll errungenen Freiheiten geblieben? Jede einzelne von ihnen war dahin, und jedes der alten Regimes saß wieder fest im Sattel.«
Croxdale sah ihn unverwandt an. Seinem Gesicht war nicht anzumerken, was er dachte.
»Bei uns hat es keinen Aufstand gegeben«, fuhr Narraway fort, etwas leiser, aber nach wie vor mit Nachdruck. »Weder Tote noch großartige Ansprachen, lediglich allmählichen gewachsenen Fortschritt. Gewiss, das ist langweilig, entbehrt womöglich auch jeden Heldentums, verläuft aber dafür auch unblutig und, wichtiger noch, ist von Dauer. Wir leben nicht unter einer früheren Tyrannei, und unsere Regierung ist eigentlich gar nicht so schlecht.«