»Danke«, sagte Croxdale trocken.
Narraway bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln, was bei ihm selten war. »Gern geschehen, Sir.«
Croxdale seufzte. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Es tut mir leid, Narraway, aber Sie müssen diese üble Geschichte um den Verbleib des für Mulhare bestimmten Geldes unverzüglich
Narraway brauchte einen Augenblick, um zu erfassen, was Croxdale damit gesagt hatte. Er saß regungslos da, umklammerte mit kalten Fingern die Sessellehnen, als müsse er sich im Gleichgewicht halten. Er holte Luft, um aufzubegehren, sah dann aber an Croxdales Gesicht, dass dieser Versuch sinnlos sein würde. Die Entscheidung war getroffen, und sie war endgültig. Er saß in der Falle und hatte nicht einmal gemerkt, wie er hineingegangen war. Jetzt hielt sie ihn fest wie das Fangeisen das Bein eines Tieres.
»Tut mir leid, Narraway«, sagte Croxdale ruhig. »Im Augenblick genießen Sie weder das Vertrauen der Regierung Ihrer Majestät noch das Ihrer Majestät. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Sie so lange von Ihrer Aufgabe zu entbinden, bis Sie Ihre Schuldlosigkeit beweisen können. Mir ist bewusst, dass Ihnen das ohne Zugang zu Ihrem Büro und ohne Zugriff auf die dort befindlichen Unterlagen schwerer fallen wird, aber Ihnen muss auch klar sein, dass ich nicht anders vorgehen kann. Sofern Sie Zugang zu den Dokumenten hätten, gäbe Ihnen das zugleich die Möglichkeit, sie zu verändern, zu vernichten oder welche hinzuzufügen.«
Narraway war benommen. Es war, als habe man ihm einen Schlag vor den Kopf versetzt. Mit einem Mal bekam er kaum
»Tut mir leid«, wiederholte Croxdale. »Das ist eine eher unglückliche Art, mit der Sache umzugehen, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Natürlich können Sie nicht nach Lisson Grove zurück.«
»Was?« Die Frage entfuhr Narraway und machte ihn verwundbarer, als er gewollt hatte. Er ärgerte sich über sich selbst, aber es war zu spät. Es gab nicht einmal die Möglichkeit, das zu überspielen, ohne die Dinge zu verschlimmern.
»Sie können nicht in Ihr Büro zurück«, sagte Croxdale, um Geduld bemüht. »Zwingen Sie mich nicht, die Angelegenheit aufzubauschen.«
Narraway erhob sich und merkte entsetzt, dass er leicht schwankte, als habe er getrunken. Er hätte gern etwas gesagt, was ihm einen würdevollen Abgang verschaffte, und zwar mit gefasster Stimme, in der keinerlei Gemütsbewegung mitschwang. Er atmete ein und stieß die Luft langsam wieder aus.
»Ich werde feststellen, wer Mulhare ans Messer geliefert hat«, sagte er mit leicht belegter Stimme. »Und auch, wer mir das angetan hat.« Er überlegte noch, ob er hinzufügen sollte, dass er es erst dann wieder für vertretbar halte, in den Sicherheitsdienst zurückzukehren, unterließ es aber, weil ihm das kleinlich erschien. »Guten Tag.«
Draußen auf der Straße sah alles genauso aus wie bei seiner Ankunft: eine Droschke hielt neben dem Gehsteig, hier und da sah man ein halbes Dutzend Männer in Anzügen mit gestreiften Hosen.
Er machte sich auf den Weg, ohne so recht zu wissen, wohin er ging. Er hatte jeden Richtungssinn verloren und dachte
Jetzt aber war er ein Mann ohne Ziel und ohne Einkommen, auch wenn ihm der letzte Punkt keine unmittelbaren Sorgen bereitete, denn der von seinem Vater ererbte Landbesitz ermöglichte ihm ohne weiteres einen angemessenen Lebensstil, wenn auch kein Schwelgen im Luxus. Er hatte keine Verwandten mehr, und mit zunehmender Beklemmung kam ihm zum Bewusstsein, dass er zwar Bekannte, aber keine wirklichen Freunde besaß. Das hatte sein Beruf in den Jahren, in denen seine Macht immer mehr angewachsen war, unmöglich gemacht. Es waren zu viele Geheimnisse zu wahren gewesen, und er hatte gar nicht vorsichtig genug sein können.
Es wäre lächerlich und sinnlos, sich jetzt dem Selbstmitleid hinzugeben. Wenn er so tief sank, was hätte er da Besseres verdient? Er musste sich zur Wehr setzen. Offenbar hatte ihm jemand das mit voller Absicht eingebrockt, denn andernfalls ergäbe die ganze Geschichte keinen Sinn. Zu seinem Bedauern konnte er sich ohne weiteres von rund zwei Dutzend Menschen vorstellen, dass sie ihm das aus einer ganzen Reihe von Gründen angetan hatten. Der Einzige, auf dessen Hilfe er hätte zählen können, war Pitt – der aber jagte in Frankreich sozialistische Reformer, die von Gewalttat und Umsturz träumten.
Mit raschen Schritten ging er Whitehall entlang, ohne nach rechts und nach links zu sehen, wobei er vermutlich, ohne es
Auf Whitehall folgte Parliament Street, dann bog er nach links ab und ging weiter, bis er die Themsebrücke von Westminster erreichte, von der aus er über das vom Wind gepeitschte Wasser nach Osten blickte.
Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, sein Büro aufzusuchen, um dort die Papierberge auf der Suche nach Unregelmäßigkeiten und Zahlen, die nicht zueinander passten, zu sichten. Damit blieb es ihm verwehrt, Dinge zu finden, die ihm einen Hinweis darauf hätten liefern können, wo er den Feind zu suchen hatte, der aus Habgier, Hass oder weil er zwei Herren diente, Verrat an Mulhare und damit zugleich an ihm geübt hatte.
Dann kam ihm ein noch weit entsetzlicherer Gedanke. War Mulhare womöglich nur zufällig zum Opfer geworden, während in Wahrheit das eigentliche Ziel des Komplotts er selbst war?
Während sich diese Frage in seinem Kopf immer deutlicher abzeichnete, begann er sich voll Bitterkeit zu fragen, ob er die Antwort darauf wirklich wissen wollte. Wer mochte das sein, dem er vertraut und in dem er sich so schrecklich getäuscht hatte?
Er merkte, dass Hass in ihm aufstieg, doch er mahnte sich, ihm nicht nachzugeben. Ein gewisses Maß an Wut war in Ordnung – das weckte die Kräfte, die nötig waren, um sich zur
Er überquerte die Brücke, nahm am anderen Ufer der Themse eine Droschke und ließ sich nach Hause fahren.
Nachdem er sich dort einen Schluck Macallan eingegossen hatte, sein Lieblings-Single-Malt-Whisky, ging er zum Tresor und nahm die wenigen Papiere heraus, die er zum Fall Mulhare im Hause aufbewahrte. So gründlich er sie durchlas, er konnte ihnen nichts entnehmen, was er nicht bereits wusste. Neu war für ihn lediglich, dass das für Mulhare bestimmte Geld binnen zwei Wochen ohne sein Wissen auf das Konto zurückgebucht worden war, von dem es seinen Ausgang genommen hatte, ohne dass ihm die Bank Mitteilung davon gemacht hätte.
Noch kurz vor Mitternacht saß er da und starrte die Wand an, ohne etwas zu sehen. Mit einem Mal riss ihn ein Geräusch aus seiner Versunkenheit. Es kam von den Fenstertüren, die auf den Garten gingen, und klang wie ein Anklopfen. Es konnte kein Zweig sein, der dagegenschlug, sondern musste von den Fingerknöcheln eines Menschen verursacht worden sein. Einen Augenblick lang erstarrte er, dann stand er auf. Die Geschwindigkeit, mit der er das tat und sich vom Licht und vom Fenster fortbewegte, zeigte ihm, wie angespannt er war.
Es klopfte erneut, und er sah zu dem Schatten hin, der sich vor dem Fenster abzeichnete. Undeutlich konnte er das Gesicht eines Mannes erkennen, der sich völlig still hielt, als wolle er erkannt werden. Einen Augenblick kam Narraway der Gedanke, es könne sich um Pitt handeln, doch sogleich verwarf er ihn wieder. Erstens befand sich Pitt in Frankreich, und zweitens war der Mann draußen kleiner.
Er musste sich konzentrieren, nachdenken. Durch den unvermuteten Schlag, den man ihm versetzt hatte, war er wie betäubt.
Der Mann vor dem Fenster konnte nur Stoker sein. Das hätte er sich gleich denken müssen. Mit einem Mal kam er sich lächerlich vor, wie er dort im Schatten stand, als habe er Angst. Er trat an die Doppeltür, die zum Garten führte, und öffnete sie weit.
Stoker kam herein. Seine Haare waren vom Nieselregen nass; er schien ein ganzes Stück zu Fuß gegangen zu sein. Das hoffte Narraway und auch, dass er mehrfach die Droschke gewechselt hatte, um eventuellen Beschattern das Leben schwer zu machen. Dann sah er, dass Stoker einen großen dicken Umschlag unter seiner Jacke verborgen hielt.