»Was tun Sie hier?«, fragte er ihn mit ruhiger Stimme und schloss die Vorhänge. Bis dahin hatte es keinen Grund dafür gegeben, und er hatte den Anblick des Gartens im Dämmerlicht genossen, den Vögeln und dem allmählichen Zunehmen der Dunkelheit zugesehen, wahrgenommen, wie sich gelegentlich Blätter in der leichten Brise bewegten.
»Ich hab Ihnen einige Papiere mitgebracht, die Ihnen vielleicht nützen können, Sir«, gab Stoker mit gleichmütig klingender Stimme zurück, wobei er ihn unverwandt ansah. Seine Körperhaltung war angespannt und zeigte Narraway, dass dem Mann bewusst war, welche Gefahr er damit auf sich nahm.
Narraway nahm den Umschlag entgegen, warf einen Blick auf die Papiere und blätterte sie rasch durch, um zu sehen, worum es sich handelte. Mit einem Mal stockte ihm der Atem, und seine Finger wurden starr. Es waren Unterlagen über einen zwanzig Jahre zurückliegenden Fall in Irland. Die Erinnerung daran überwältigte ihn aus einer Reihe von Gründen,
Es war, als habe er die Menschen, um die es ging, erst vor wenigen Tagen gesehen. Er konnte sich an den Geruch des Torffeuers in dem Zimmer erinnern, in dem er bis weit in die Nacht mit Kate über den geplanten Aufstand gesprochen hatte. Er war beinahe sogar noch imstande, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, mit dem er ihr klarzumachen versucht hatte, dass das Vorhaben der Iren auf jeden Fall fehlschlagen und in seinem Gefolge noch mehr Tod und Bitterkeit mit sich bringen werde.
Mit einer Genauigkeit, die ihn nach wie vor schmerzte, konnte er sich an ihren Blick erinnern, an den Lichtschein, den die Lampe auf ihre Haut warf, den Klang ihrer Stimme, wenn sie seinen Namen aussprach – und an sein Schuldgefühl.
Vor seinem inneren Auge sah er die Wut Cormac O’Neils, auf die Gram gefolgt war, und er verstand beides. Alle hatten Grund gehabt, Narraway zu hassen. Doch so lebhaft ihm die Dinge auch vor Augen standen, sie lagen zwanzig Jahre zurück.
Er hob den Blick zu Stoker. »Warum bringen Sie mir das?«, fragte er. »Der Fall ist erledigt. Es ist eine alte Geschichte.«
»Der Ärger mit Irland ist nie zu Ende«, gab Stoker schlicht zurück.
»Wir haben hier jetzt aber dringendere Probleme«, hielt ihm Narraway vor. »Und möglicherweise auch auf dem europäischen Festland.«
»Sozialisten?«, sagte dieser trocken. »Die haben immer was zu meckern.«
»Es ist weit mehr als das«, teilte ihm Narraway mit. »Es sind Fanatiker. Es handelt sich um eine Art neue Religion, die sie mit einem missionarischen Eifer verbreiten, als gehe es um eine heilige Sache. Ganz wie das Christentum in seinen Anfängen
Stoker sah verwirrt drein, als halte er das für unerheblich, auch wenn es der Wahrheit entsprach.
»Sie halten sich gegenseitig alle miteinander für Ketzer«, sagte Narraway bitter, »und deshalb bekämpfen die einen die anderen ebenso sehr wie jeden Außenstehenden.«
»Gott sei Dank«, sagte Stoker mit Nachdruck.
»Wenn wir dann sehen, dass sich Jünger verschiedener Glaubensrichtungen insgeheim treffen und zusammenarbeiten, wissen wir, dass es sich um eine ungeheuer wichtige Sache handeln muss, die für eine Weile die Kluft zwischen ihnen überbrückt hat.« Narraway hörte die Schärfe in seiner eigenen Stimme und erkannte in Stokers Augen, dass er ihn jetzt verstanden hatte.
Langsam stieß Stoker die Luft aus.
»Wie viel wissen wir über das, was die vorhaben, Sir?«
»Ich ahne es nicht im Entferntesten«, gab Narraway zu. »Im Augenblick liegt die ganze Sache auf Pitts Schultern.«
»Und auf Ihren«, sagte Stoker. »Wir müssen unbedingt die Geschichte mit dem Geld aufklären, Sir, damit Sie wieder nach Lisson Grove zurückkönnen.«
Während Narraway Luft holte, um zu antworten, spürte er, wie ihn mit einem Mal eine sonderbare Mischung der unterschiedlichsten Gefühle erfüllte: tiefe Überzeugung, Furcht, Hilflosigkeit und der Eindruck, etwas verloren zu haben. Worte waren außerstande, das auszudrücken.
Stoker wies auf die von ihm mitgebrachten Papiere. »Wir können es uns nicht leisten zu warten«, sagte er eindringlich. »Ich habe im Hinblick auf Informanten, Geld und Irland so viel durchgesehen, wie ich konnte, um festzustellen, was dahinterstecken könnte. Den Fall hier halte ich für den wahrscheinlichsten.
»Woran wollen Sie das gemerkt haben?«
»An der Art, wie sie zurückgestellt worden ist.«
»Unordentlich?«
»Nein, im Gegenteil – alles war geradezu übertrieben genau geordnet.«
Jetzt fürchtete Narraway um Stoker. Mit seinem Verhalten setzte der Mann seine Anstellung aufs Spiel, und wenn man ihm auf die Schliche kam, konnte man auch ihm den Prozess wegen Hochverrats machen. Allerlei Möglichkeiten schossen Narraway durch den Kopf, unter anderem der Verdacht, es könnte sich um eine Falle handeln, die man ihm stellte. Doch auf die Gefahr hin, dass es sich so verhielt, wollte er die Akte studieren, allerdings nicht in Stokers Gegenwart. Für den Fall, dass dessen Handlungsweise auf Ergebenheit seinem Vorgesetzten gegenüber fußte oder auch nur auf Anstand und Wahrheitsliebe, wollte er vermeiden, dass Stoker die damit verbundene Gefahr auf sich nahm. Es wäre besser für beide, nicht dabei ertappt zu werden.
»Woher haben Sie die?«, fragte er.
Stoker sah ihn mit dem Anflug eines Lächelns an. »Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen, Sir.«
Narraway erwiderte das Lächeln. »Damit ich es nicht weitersagen kann«, folgerte er.
Stoker nickte. »Das auch, Sir.«
Die Art, wie ihn Stoker immer wieder mit »Sir« anredete, gefiel ihm in sonderbarer Weise, als sei er immer noch derjenige, der er am Vormittag gewesen war. War ihm die Achtung anderer so wichtig? Wie erbärmlich!
Er schluckte hart und sog die Luft ein. »Lassen Sie mir das da. Gehen Sie nach Hause, wo jeder Sie vermutet. Holen Sie es wieder ab, sobald das ohne Gefahr möglich ist.«
»Tut mir leid, Sir, aber das muss vor Morgengrauen wieder an Ort und Stelle sein«, gab Stoker zur Antwort. »Genau genommen je früher, desto besser.«
»Ich brauche sicher die ganze Nacht, um das zu lesen und mir Notizen zu machen«, hielt Narraway dagegen, doch noch während er das sagte, war ihm klar, dass der Mann Recht hatte. Es war zu gefährlich, diese Dokumente auch nur einen Tag aus Lisson Grove zu entfernen, denn wenn ihr Fehlen erst einmal entdeckt war, würde es keine Möglichkeit mehr geben, sie an Ort und Stelle zurückzubringen. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand hatte, würde sie bei Narraway vermuten und als Nächstes festzustellen versuchen, wer sie ihm zugespielt hatte. Er hatte kein Recht, Stoker auf diese törichte Weise zu gefährden oder gar zugrunde zu richten. Damit würde er ihm die Ergebenheit schlecht lohnen, falls die dessen Triebfeder gewesen war. Unter Umständen gab es ja auch andere Gründe für seine Handlungsweise, doch Narraway hielt sich lieber an die Annahme, dass es sich um Ergebenheit handelte. Er konnte es sich nicht leisten, etwas anderes zu vermuten.
»Ich sehe zu, dass ich sie noch vor dem Morgengrauen ganz durchgehen kann«, versprach er. »Drei Uhr. Sie können dann wiederkommen und sie abholen. Auf die Weise haben Sie die Möglichkeit, noch vor Tagesanbruch ins Büro zu gehen und wieder zu verschwinden. Oder Sie können sich oben in meinem Gästezimmer hinlegen, wenn Ihnen das lieber ist. Das wäre wohl auch klüger, denn dann würden Sie niemandem über den Weg laufen.«
Stoker rührte sich nicht. »Ich bleibe lieber hier, Sir. Ich verstehe mich zwar ziemlich gut darauf, nicht gesehen zu werden, aber es dürfte das Beste sein, das Risiko gar nicht erst einzugehen. «
Narraway nickte. Offensichtlich hatte Stoker begriffen, welche Gefahr er auf sich nahm. Das war wohl auch ganz gut
»Im Obergeschoss gleich hinter der Treppe links«, sagte er. »Da finden Sie alles, was Sie brauchen.«