Stoker dankte ihm und ging, wobei er die Tür geräuschlos hinter sich zuzog.
Narraway drehte das Gas für den Glühstrumpf etwas weiter auf, setzte sich in den bequemen Sessel am Kamin und begann zu lesen.
Die ersten Seiten beschäftigten sich mit dem Fall Mulhare und der Zusage, dass dieser für seine Mitarbeit einen großen Geldbetrag bekommen würde. Letzterer war nicht so sehr als Belohnung gedacht, sondern sollte ihm die Möglichkeit geben, Irland zu verlassen und statt nach Amerika, wie man wohl allgemein annehmen würde, nach Südfrankreich zu gehen, weil die Wahrscheinlichkeit geringer war, dass ihn seine Feinde dort suchten.
Aufgrund von Austwicks Mitteilung war es Narraway inzwischen schmerzlich bewusst, dass Mulhare das Geld nicht bekommen hatte, weshalb er in Irland geblieben und umgebracht worden war. Nur war Narraway nach wie vor unbekannt, wieso das Geld seinen Empfänger nicht erreicht hatte. Er wusste genau, dass er es von einem seiner eigenen Konten weitergeleitet hatte, allerdings unter einem anderen Namen, damit niemand merkte, dass es von ihm und damit vom Sicherheitsdienst kam. Kein Ire wollte, dass man es an die große Glocke hängte, wenn er aus dieser Quelle finanziert wurde.
Narraway hatte das Geld ausgezahlt, genauer gesagt, alle dafür nötigen Formulare ausgefüllt und sich vergewissert, dass es angewiesen wurde. Jetzt war es auf unerklärliche Weise zurückgekehrt.
Er hatte sich für dies umständliche Verfahren entschieden, um Mulhare zu schützen, und jetzt sah es ganz so aus, als habe sich jemand in den Kreislauf des Geldes eingeschaltet, um das genaue Gegenteil zu bewirken, nämlich, dass Mulhare in Irland blieb und getötet wurde, wie es dieser von Anfang an befürchtet hatte.
Die übrigen Unterlagen bezogen sich auf einen zwanzig Jahre zurückliegenden Fall, den Narraway am liebsten vergessen hätte. Zu jener Zeit waren die Wogen von Gewalttat und Leidenschaftlichkeit noch höher gegangen als sonst.
Damals war Charles Stewart Parnell, ein Mann von feuriger Beredsamkeit, der dank seiner Abkunft aus dem protestantischen Establishment Irlands beste Beziehungen bis hinauf in die höchsten Gesellschaftskreise hatte, gerade ins Unterhaus gewählt worden. Darüber hinaus war er ein äußerst aktives Mitglied im Rat der Liga für die irische Selbstbestimmung gewesen. Er hatte eine harte Linie vertreten und der Erreichung dieses Ziels sein ganzes Leben untergeordnet. Mit einem Mal hatte es wieder Hoffnung gegeben, dass es für Irland nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft eine Möglichkeit geben würde, dies Joch endlich abzuschütteln und sich erneut selbst zu regieren. Die Freiheit lockte, und die Menschen hätten die entsetzliche Zeit der durch die Kartoffel-Missernte verursachten Hungersnot vergessen können.
Selbstverständlich hatte Narraway im Jahre 1875 noch nicht den Sicherheitsdienst geleitet, sondern war im Außendienst tätig gewesen. Man hätte den drahtigen und kräftigen Mann von Mitte dreißig mit seinem raschen Verstand, beträchtlichen Charme und trockenen Humor dank seiner schwarzen Haare und nahezu schwarzen Augen ohne weiteres für einen Iren halten können. Sofern jemand das tat, wie in jenem bewussten Fall, unternahm er nichts, um den Irrtum richtigzustellen.
Damals hatte ein gewisser Cormac O’Neil die Sache der Iren verfochten, ein Grübler mit einem Naturell so finster wie eine Herbstlandschaft voll plötzlich auftretender Schatten und am Horizont dräuender Gewitter. Er liebte die Geschichte seines Landes, vor allem die mündlich überlieferte und in alten Liedern unsterblich gemachte. Auch wenn ihm klar war, dass die Hälfte davon wohl auf Erfindung beruhte, glaubte er an gefühlsbetonte Wahrheiten, an den Kummer im kollektiven Gedächtnis des irischen Volkes – kurz, er sehnte sich nach allem, was er nicht haben konnte.
Während Narraway diese Dinge ins Gedächtnis kamen, erinnerte er sich zugleich mit Bedauern und voll Schuldgefühl an Cormacs Bruder Sean und noch lebhafter an dessen Frau Kate. Die schöne Kate, so lebendig, so tapfer, so vernünftig und zugleich so blind den gefährlichen Empfindungen anderer gegenüber, die sich gekränkt fühlten.
In der Stille seines mit typisch englischen Erinnerungsstücken angefüllten Londoner Heims kam es ihm jetzt vor, als liege Irland am anderen Ende der Welt. Kate und Sean lebten nicht mehr. Narraway hatte gewonnen, und der von den Iren geplante Aufstand war ohne Blutvergießen auf beiden Seiten in sich zusammengebrochen. Nichts Spektakuläres hatte stattgefunden, das Ganze war einfach sacht dahingeschwunden wie ein Wintertag mit der Abenddämmerung. Darin hatte Narraways Sieg bestanden, und niemand hatte je davon erfahren.
Auch Charles Stewart Parnell lebte nicht mehr. Vor dreieinhalb Jahren, im Oktober 1891, war er einer Lungenentzündung erlegen. Durch eine sich über Jahre hinziehende wilde und verhängnisvolle Affäre mit der Gattin eines Parteifreundes, Hauptmann O’Shea, die in ganz England für Aufsehen gesorgt hatte, war er zwischen alle Stühle geraten und hatte sich damit politisch ins Abseits manövriert.
Der Traum von der Selbstbestimmung Irlands hatte sich nach wie vor nicht erfüllt, und geblieben war nichts als Groll.
Ein Schauer überlief Narraway in seinem warmen, vertrauten Wohnzimmer, in dessen Kamin die letzte Glut noch glomm und wo die Gaslampen einen goldenen Lichtschimmer auf ihn und seine Umgebung warfen. Die Kälte in seinem Inneren ließ sich durch diese Annehmlichkeiten nicht vertreiben und auch nicht durch Worte, Gedanken oder Bedauern.
Ob Cormac O’Neil noch lebte? Es gab keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. In dem Fall dürfte er jetzt Mitte fünfzig bis knapp sechzig Jahre alt sein. Er konnte durchaus hinter dieser Geschichte stecken, denn er hatte nach dem fehlgeschlagenen Aufstand, nach Seans und Kates Tod, weiß Gott mehr Grund, Narraway zu hassen, als jeder andere Mensch auf der Erde.
Aber warum hätte er mit seiner Vergeltung zwanzig Jahre warten sollen? Wenn nun Narraway einem Unfall zum Opfer gefallen oder eines natürlichen Todes gestorben wäre, was ohne weiteres möglich war, hätte das Cormac O’Neil um seine Rache gebracht.
Konnte ihn in der Zwischenzeit etwas gehindert haben? Eine Krankheit, die ihn geschwächt hatte? Nicht zwanzig Jahre lang. War er im Gefängnis gewesen? Bestimmt hätte Narraway davon erfahren, wenn es sich um eine Tat gehandelt hätte, die eine so lange Haft rechtfertigte. Außerdem gab es sogar aus dem Gefängnis heraus Möglichkeiten, mit der Außenwelt Verbindung aufzunehmen.
Unter Umständen hatte dieser Fall doch nichts mit der Vergangenheit zu tun. Oder galt die auf diese Weise verübte Rache gar nicht Narraway als Person, sondern England? Hatte Cormac möglicherweise begriffen, dass auch Narraway wie sie alle lediglich für das eigene Land und seine eigenen Überzeugungen eintrat? Immerhin war es denkbar, dass der Sicherheitsdienst
Mühelos konnte er die alten Erinnerungen wachrufen. Er ging wieder an der Seite Kates in der Stille des Herbstes durch reifbedecktes rotes und gelbes Laub, das unter ihren Füßen leise brach. Sie hatte keine Handschuhe bei sich, und so hatte er ihr seine geliehen. Er spürte in der Erinnerung, wie seine Hände vor Kälte schmerzten. Sie hatte ihn deshalb ausgelacht, mit fröhlich lächelnden Augen, während sie bittere Späße darüber gemacht hatte, dass englische Wolle die Hände Irlands wärmte.
Bei ihrer Rückkehr in den Gasthof waren Sean und Cormac da gewesen, und sie hatten miteinander am offenen Torffeuer Roggenwhiskey getrunken. Er konnte sich noch an den Torfgeruch erinnern, wie auch daran, dass Kate gescherzt hatte, wie gut es sei, dass er keinen Wodka haben wolle, da Kartoffeln zu knapp seien, als dass man sie zur Schnapsherstellung vergeuden dürfte.
Er hatte darauf keine Antwort gegeben. Noch dreißig Jahre nach der großen Hungersnot hatte das Land damals unter deren Folgen gelitten. Nichts, was er hätte sagen können, wäre geeignet gewesen, das herunterzuspielen.
Es gab auch noch andere Erinnerungen, und sie alle hatten mit heftigen Gefühlsaufwallungen, Treubruch und Bedauern zu tun. Hatte nicht der Herzog von Wellington einmal gesagt, es gebe nichts Schlimmeres als eine gewonnene Schlacht – außer einer verlorenen? Oder etwas in der Art.