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Hatte der damals von Narraway erstattete Bericht der Wahrheit entsprochen? Natürlich war er geschönt gewesen, von allen menschlichen und leidenschaftlichen Elementen befreit – aber alles, was für den Sicherheitsdienst von Bedeutung war, hatte der Wahrheit entsprochen, und er hatte eine hinreichende Menge an Informationen enthalten.

Dann kam ihm ein Gedanke. In einem Punkt stimmte etwas möglicherweise nicht ganz. Er stand auf, drehte das Gaslicht erneut heller und nahm die Blätter wieder aus dem Umschlag. Er las sie noch einmal von Anfang bis Ende, wie auch die von seinem damaligen Vorgesetzten Buckleigh angebrachten Randnotizen. Beim ersten Lesen hatte er sich nicht mit ihnen beschäftigt, weil er genau wusste, was darin stand, und er daran nicht erinnert werden wollte. Man hatte seine Entstellung der Wahrheit zu jener Zeit nur allzu bereitwillig geglaubt, wobei er sich hauptsächlich gewisser Auslassungen schuldig gemacht hatte. Da er die Operation in Buckleighs Auftrag durchgeführt hatte, war diesem nichts anderes übriggeblieben, als den Bericht zu akzeptieren, wie er war. Vom Standpunkt der Moral musste man auch ihm Vorwürfe machen.

Narraway fand, was er befürchtet hatte: Man hatte etwas hinzugefügt, nur ein oder zwei Wörter. Jemandem, der Buckleighs Art zu formulieren nicht kannte, wäre das nie aufgefallen. Die Handschrift sah völlig gleich aus, doch die hinzugefügten Wörter änderten den Sinn der Aussage. Zwar nur ein wenig, aber es genügte, um Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass Buckleigh das in Narraways Bericht Enthaltene uneingeschränkt geglaubt hatte. An einer Stelle war lediglich ein Fragezeichen

Von wem stammten diese Zusätze – und wann waren sie eingefügt worden? Bei der Frage nach dem Warum gab es für Narraway nicht den geringsten Zweifeclass="underline" Jemand wollte die Rolle, die er bei der Geschichte gespielt hatte, als zwielichtig hinstellen, die alten Geister heraufbeschwören und erneut zum Leben erwecken. Vielleicht war das der entscheidende Faktor gewesen, der Croxdale dazu veranlasste hatte, ihn von seinem Amt zu suspendieren. Für so etwas genügten Zweifel, vorausgesetzt, sie waren hinreichend schwerwiegend. In solchen Fällen wartete man nicht auf Beweise, die womöglich nie kamen.

Er las die Papiere ein weiteres Mal durch, einfach, um sich zu vergewissern, dass er keinem Irrtum aufgesessen war, dann legte er sie erneut in den Umschlag zurück und ging nach oben, um Stoker zu wecken, damit dieser möglichst früh, und auf jeden Fall noch vor der Morgendämmerung, aufbrechen konnte.

Er klopfte an die Tür des Gästezimmers, und Stoker meldete sich. Als er die Tür öffnete, stand Stoker bereits neben dem Bett. Im Licht, das vom Treppenabsatz hereinfiel, konnte man deutlich sehen, dass die Decke kaum eingedrückt war. Eine rasche glättende Handbewegung, und es würde aussehen, als sei der Mann nie dagewesen.

Stoker sah Narraway fragend an.

»Ich danke Ihnen«, sagte dieser ruhig. Die Rührung in seiner Stimme war deutlicher zu hören, als er gewollt hatte.

»Allem Anschein nach haben Sie etwas gefunden«, bemerkte Stoker.

»Verschiedenes«, gab Narraway zu. »Jemand hat Buckleighs Randnotizen in meinem Bericht überaus umsichtig bearbeitet und damit ihren Sinn verändert. Zwar nur ganz wenig, aber es genügt, um den angestrebten Zweck zu erreichen.«

Stoker trat auf den Gang, und Narraway gab ihm den Umschlag. Stoker schob ihn so unter seine Jacke, dass man ihn nicht sehen konnte, kniffte ihn aber nicht und schob ihn auch nicht in den Hosenbund. Er wollte auf keinen Fall, dass er an den Rändern beschädigt wurde – auch dies ein Hinweis auf das Risiko, das er mit diesem Unternehmen auf sich genommen hatte. Er sah Narraway in die Augen.

»Austwick ist an Ihre Stelle getreten, Sir.«

»Schon?«

»Ja, Sir. Da Mr Pitt gegenwärtig in Frankreich ist, haben Sie in Lisson Grove keine Freunde mehr, jedenfalls keine, die bereit sind, etwas für Sie aufs Spiel zu setzen. Die Parole heißt ganz offensichtlich ›Jeder ist sich selbst der Nächste‹«, sagte er mit finsterer Miene. »Ich fürchte, es gibt auch niemanden mehr im Hause, der Mr Pitt helfen würde, falls er in Schwierigkeiten geriete.«

»Das ist mir klar«, sagte Narraway, der zutiefst unglücklich darüber war, dass er Pitt nicht mehr vor Neid und Missgunst derer bewahren konnte, die schon lange im Sicherheitsdienst tätig waren, als Narraway ihn eingestellt hatte.

Stoker zögerte, als wolle er noch etwas sagen, unterließ es dann aber. Er nickte schweigend und ging nach unten ins Wohnzimmer. Dort tastete er sich, ohne Licht zu machen, zu den Fenstertüren vor, öffnete sie und glitt hinaus in den Wind und die Dunkelheit.

Narraway schloss die Türflügel hinter ihm und ging wieder nach oben. Er entkleidete sich und ging zu Bett, lag aber lange

Es war noch keine zwei Tage her, dass Austwick zu ihm ins Büro gekommen war. Narraway hatte kaum auf das geachtet, was der Mann zu sagen hatte: Er war ihm lästig gewesen, nichts weiter. Dann hatte Croxdale ihn kommen lassen, und alles war anders geworden. Die Situation kam ihm so vor, als gehe er eine steile Treppe hinab, nur um festzustellen, dass die unterste Stufe fehlte, so dass er mit rudernden Armen ins Leere stürzte – und weit und breit war nichts, woran er sich hätte festhalten können.

So blieb er bis Tagesanbruch liegen. Mit einem Schmerz, der ihn überraschte, machte er sich klar, einen wie großen Teil seiner selbst er verloren hatte. Es war seine Gewohnheit, morgens früh aufzustehen, ganz gleich, ob er geschlafen hatte oder nicht. Die Pflicht war eine unerbittliche Gebieterin, doch mit einem Mal erkannte er, dass sie überdies eine den Menschen treu ergebene beständige Begleiterin war, die zu schätzen wusste, was sie taten. Sie war nie bedeutungslos.

Ohne sie fühlte er sich nackt und bloß. Wie sehr mochte er es dann erst in den Augen anderer sein! Er war es gewohnt, dass man ihn nicht besonders gut leiden konnte. So war das nun einmal bei Menschen, die viel Macht hatten und viele Geheimnisse kannten. Aber noch nie war es vorgekommen, dass er nicht gebraucht wurde.

KAPITEL 3

Am frühen Abend saß Charlotte im Wohnzimmer dem Sessel ihres Mannes gegenüber allein am Kamin. Jemima und Daniel waren bereits im Bett. Man hörte keinen Laut, außer einem gelegentlichen leisen Knistern des Feuers. Von Zeit zu Zeit nahm sie von dem Stapel, der neben ihr lag, ein weiteres Teil zur Hand, das geflickt werden musste – Kissenbezüge, eine Schürze Jemimas –, doch meistens sah sie einfach ins Kaminfeuer. Zwar fehlte ihr Pitt, aber sie verstand, dass es nötig gewesen war, den Übeltäter, hinter dem er her war, bis nach Frankreich zu verfolgen. Auch ihr früheres Dienstmädchen Gracie fehlte ihr. Sie hatte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr gut zehn Jahre bei ihnen im Hause gelebt, war aber inzwischen mit Polizeiwachtmeister Tellman verheiratet, Pitts früherem Untergebenen, der jahrelang unentwegt um sie geworben hatte.

Charlotte nahm die Schürze zur Hand und nähte den aufgegangenen Saum nach, wobei sie kaum hinsah. Immer wieder stieß die Nadel mit leisem Klicken gegen den Fingerhut. Jemima war inzwischen dreizehn Jahre alt und wuchs so rasch, dass man in ihr schon die junge Frau erahnen konnte, die sie bald sein würde. Der knapp drei Jahre jüngere Daniel bemühte sich nach Kräften, die Schwester rasch einzuholen.

Charlotte musste lächeln, als sie an Gracie dachte, wie sie stolz an Pitts Arm in ihrem weißen Hochzeitskleid durch den Mittelgang der Kirche schritt. Tellman hatte mit unübersehbarer Nervosität am Altar gewartet und vor Glück gestrahlt, als sich Gracie vom Arm ihres Brautführers löste. Er musste wohl befürchtet haben, dass er den Tag nie erleben würde.

Was Charlotte vor allem fehlte, war Gracies Munterkeit, ihre völlige Offenheit, die stets lebensbejahende Haltung und der Mut. Nie hatte sich Gracie durch irgendetwas unterkriegen lassen. Ihre Nachfolgerin, Mrs Waterman, eine mürrische Frau in mittleren Jahren, war zwar eine ehrliche Haut und sorgte dafür, dass alles im Hause blitzblank war, schien aber nur glücklich zu sein, wenn sie über etwas jammern konnte. Charlotte hoffte inständig, sie würde sich im Laufe der Zeit fangen und besser fühlen.