Als es unvermittelt an der Wohnzimmertür klopfte, fuhr sie zusammen. Sie hatte wohl die Klingel an der Haustür überhört, denn Mrs Waterman kam mit missmutig verzogenem Gesicht herein und sagte: »Da is’ ’n Herr, Ma’am. Soll ich ’m sag’n, dass Mr Pitt nich’ zu Hause is’?«
Charlotte war verblüfft, und ihr erster Gedanke war, diese Anregung aufzunehmen. Dann meldete sich ihre Neugier. Um diese Tageszeit konnte es sich nur um jemanden handeln, den sie kannte.
»Wer ist denn da, Mrs Waterman?«
»Einer, der ziemlich finster aussieht, Ma’am. Er sagt, er heißt Narraway«, gab sie Auskunft. Dabei senkte sie die Stimme, sei es aus Widerwillen, sei es, um Vertraulichkeit anzudeuten. Vermutlich Ersteres.
»Führen Sie den Herrn herein«, sagte Charlotte rasch und legte den Stapel mit Flickarbeiten auf einen Stuhl hinter dem Sofa, wo man ihn nicht sehen konnte. Mechanisch strich sie sich den Rock glatt und musterte ihre ziemlich lockere Frisur
Mrs Waterman zögerte.
»Führen Sie den Herrn bitte herein«, wiederholte Charlotte mit etwas schärferer Stimme.
»Ich bin in der Küche, falls Se mich brauch’n«, sagte die Haushälterin und verzog dabei den Mund zu etwas, was mit Sicherheit nicht als Lächeln gemeint war. Sie verschwand, und bald darauf trat Narraway ein. Drei Tage zuvor war er Charlotte müde und besorgt erschienen, was allerdings bei ihm nichts Ungewöhnliches war. Jetzt hingegen sah er abgespannt aus, die Augen in seinem schmalen Gesicht lagen tief in ihren Höhlen, und seine Haut schien alle Farbe verloren zu haben.
Bei diesem Anblick befiel Charlotte eine so entsetzliche Angst, dass es ihr den Atem nahm. Bestimmt war er gekommen, ihr zu berichten, dass Pitt etwas zugestoßen war. Alles in ihr wehrte sich dagegen, sich vorzustellen, was er sagen würde.
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie so spät störe«, begann er. Zwar klang seine Stimme beinahe wie immer, doch hörte sie an dem leichten Zittern darin, welche Mühe es ihn kostete, sie zu beherrschen. Seine Augen waren so dunkel, dass sie im Schein der Lampe schwarz wirkten, doch sonderbarerweise konnte sie den Ausdruck darin mühelos deuten. Er war offenkundig tief verletzt, und in ihm erkannte sie eine Leere, die drei Tage zuvor noch nicht da gewesen war.
Er musste ihre Besorgnis erkannt haben, was nicht weiter verwunderlich war. Mit kläglichem Lächeln sagte er: »Ich habe nichts Neues von Ihrem Mann gehört, doch besteht kein Grund anzunehmen, dass es ihm nicht gutgeht. Wahrscheinlich hat er dort sogar besseres Wetter als wir hier.« Behutsam fuhr er fort: »Allerdings bin ich überzeugt, dass er es langweilig
Sie schluckte. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, und die Erleichterung, die ihren ganzen Körper durchlief, erfüllte sie mit einem Schwindelgefühl. » Was ist es dann?«
Ein Anflug von Belustigung blitzte flüchtig in seinen Augen auf und verschwand gleich wieder. »Ach je, sieht man es mir so deutlich an?«
Zwar überraschte es sie, dass er sich ihr gegenüber so freimütig geäußert hatte wie noch nie zuvor, beinahe so, als seien sie gute alte Bekannte, aber dennoch empfand sie es nicht als unnatürlich.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich kann nur sagen, dass Sie entsetzlich aussehen. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee oder lieber Whisky? Vorausgesetzt, dass wir welchen im Hause haben. Da bin ich jetzt gar nicht sicher. Der beste ist vermutlich bei Gracies Hochzeit ausgetrunken worden.«
»Ach ja, Gracie.« Diesmal war sein Lächeln ungekünstelt. Eine Spur von Herzlichkeit lag darin, und es veränderte den ganzen Ausdruck seines Gesichts. »Ihr Anblick hier im Haus wird mir fehlen. Mit jedem Zoll ihrer ein Meter fünfzig war sie ein großartiges Geschöpf.«
»Genau genommen waren es nicht einmal ganz ein Meter fünfzig«, berichtigte ihn Charlotte mit Wärme in der Stimme. »Glauben Sie mir, Sie können sie unmöglich so sehr vermissen wie ich.«
»Das höre ich Ihrer Stimme an«, bemerkte er und trat ein wenig näher ans Feuer, obwohl der Abend nicht sonderlich kalt war. »Diese Mrs … Lemon ist Ihnen wohl nicht besonders ans Herz gewachsen?«
»Waterman«, korrigierte sie. »Aber Lemon würde gut passen, denn sie ist meist wirklich so säuerlich wie eine Zitrone. Ich glaube, sie missbilligt mich und was ich tue. Möglicherweise
»Danke, aber ich begnüge mich mit dem Tisch«, sagte er trocken.
Sie setzte sich auf das Sofa, denn es war ihr unbehaglich, am Kamin so nahe bei ihm zu stehen. »Bestimmt sind Sie nicht gekommen, um sich nach den Einzelheiten meines Haushalts zu erkundigen. Selbst wenn Sie Mrs Waterman kennen würden, würde das noch nicht hinreichen, um den Kummer zu erklären, den ich in Ihrem Gesicht lese. Was ist geschehen? « Als sie merkte, dass ihre Hände, die sie fest ineinandergeschlungen im Schoß hielt, schmerzten, zwang sie sich, sie voneinander zu lösen.
Eine kurze Weile hörte man im Raum keinen Laut außer dem Knistern des Feuers. Es war, als habe sich Narraway noch nicht überlegt, was er eigentlich sagen wollte.
Während sie wartete, nahm ihre Besorgnis wieder zu, und ihre Finger schlangen sich erneut ineinander.
Er holte tief Luft, ließ sie wieder entweichen, wandte den Blick zum Kaminfeuer. »Man hat mich meines Postens im Sicherheitsdienst enthoben. Wie es heißt, handelt es sich dabei lediglich um eine vorläufige Maßnahme, aber die Leute werden mit Sicherheit dafür sorgen, dass sie von Dauer sein wird, wenn sie eine Möglichkeit dazu finden.« Er schluckte, als habe er Halsschmerzen, und sah dann zu ihr hin. »Das betrifft insofern auch Sie, als ich keinen Zutritt mehr zu meinem Büro und damit auch keinen Zugang zu den darin befindlichen Unterlagen habe. Ich werde also nicht erfahren, wie sich die Dinge in Frankreich oder wo auch immer entwickeln. An meine Stelle ist Charles Austwick getreten, dem Ihr Mann nicht genehm ist und der ihm nicht traut. Ersteres aus Neid, weil Pitt ihn, obwohl er nach ihm eingestellt wurde, weit
Wie war es möglich, etwas im selben Augenblick zu glauben und für unglaublich zu halten? Charlotte war wie betäubt, so dass es ihr unmöglich war, mit dem Verstand aufzunehmen, was Narraway gesagt hatte. Doch ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr, dass es keinen Grund gab, an seinen Worten zu zweifeln. Plötzliches Mitleid mit ihm erfasste sie, und sie wandte sich ab, damit er ihr das nicht anmerkte. Dann ging ihr auf, was er über Pitt und Austwick gesagt hatte, und sie verstand, warum er eigens gekommen war, um sie über die veränderte Situation zu unterrichten.
Ihr war bewusst, dass er sie beobachtete.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Ihr war klar, wofür er gleichsam um Entschuldigung bat. Er hatte dazu beigetragen, dass Pitt in der Dienststelle unbeliebt war, indem er ihn den anderen Mitarbeitern vorgezogen und ihm Aufgaben übertragen hatte, die er ihnen nicht zutraute. Jetzt, da Narraway nicht mehr seine schützende Hand über ihn halten konnte, würde er verwundbar sein. Er hatte nie einen anderen Beruf als den eines Polizeibeamten und danach den eines Beamten im Sicherheitsdienstes ausgeübt. Bei der Polizei hatte man ihn aus seiner Position gedrängt, nachdem er einen langen und durchaus erfolgreichen Kampf gegen den Inneren Kreis geführt hatte, Männer, die hohe Machtpositionen
Sie würden das Haus in der Keppel Street und alle damit verbundenen Annehmlichkeiten aufgeben müssen. Über Mrs Waterman würde sich Charlotte künftig mit Sicherheit nicht mehr zu ärgern brauchen, da sie genötigt sein würde, ihre Fußböden eigenhändig zu schrubben, wenn nicht gar auch noch die anderer Leute. Das würde Pitt noch härter ankommen als sie selbst. Sie konnte sich die Scham auf seinem Gesicht schon vorstellen, die er empfinden würde, weil er nicht in der Lage war, für sie zu sorgen, ihr nicht einmal mehr die bescheidene Behaglichkeit eines eigenen Heims bieten konnte, ganz zu schweigen von dem Luxus, in dem sie aufgewachsen war.