Sie hob den Blick zu Narraway und fragte sich, wie es ihm ergehen mochte. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, ob er auf sein Gehalt angewiesen war oder nicht. Seine Art zu sprechen und sich zu geben, die nahezu gleichgültige Eleganz seiner Kleidung wiesen auf eine Herkunft aus einer gehobenen Gesellschaftsschicht hin, was aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit Reichtum war. Nicht einmal alle nachgeborenen Söhne des Hochadels waren finanziell besonders gut gestellt.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie und merkte sogleich, dass er diese Frage als aufdringlich und schmerzlich empfinden konnte. Sicherlich hatte sie kein Anrecht auf eine Antwort. Sie spürte, wie es ihr heiß in die Wangen stieg. Wäre es
»Es entspricht ganz Ihrem Wesen«, gab er freundlich zurück, »sich um mich Sorgen zu machen und gleichzeitig anzunehmen, dass es etwas zu tun gibt.«
Jetzt kam sie sich töricht vor. »Gibt es denn nichts, was man tun könnte?«
Er zögerte. Das Schweigen zwischen ihnen war mit allerlei Erinnerungen und Empfindungen angefüllt. Noch vor drei Tagen war er Pitts mit großer Machtfülle ausgestatteter Vorgesetzter gewesen, und jetzt war von dieser Macht nichts mehr übrig. Ganz davon abgesehen, würde er möglicherweise in einigen Wochen auch kein Einkommen mehr beziehen.
Hatte er Freunde, Menschen, an die er sich wenden konnte, oder würde es ihm sein Stolz verbieten, das zu tun? Sie kannte ihn zwar, seit Pitt in den Sicherheitsdienst eingetreten war, merkte jetzt aber deutlich, wie sehr diese Bekanntschaft an der Oberfläche geblieben war. Wie sah seine Vergangenheit aus, sein Leben außerhalb des Dienstes? Unter Umständen gab es da nicht viel.
Sie wusste, dass sich Pitt beim letzten im Auftrag des Sicherheitsdienstes abgeschlossenen Fall die Feindschaft des Prinzen von Wales zugezogen hatte. Erstreckte sie sich auch auf Narraway? Während sie an die näheren Umstände dachte, wuchs ihre Überzeugung, dass es so sein musste. Wie viele weitere Feinde mochte er haben? Die Menschen schätzten es nicht, wenn anderen private Dinge über sie bekannt waren, wie das bei Narraway der Fall war, und sie vergaßen es ihnen nicht.
Sie sah auf sein von der Lampe erhelltes Gesicht und senkte dann den Blick. Sie war nicht sicher, was sie sagen sollte, doch war ihr klar, dass Stillschweigen weder ihm noch Pitt etwas nützen würde.
»Was werden Sie tun?«, fragte sie erneut.
»Um Pitt zu helfen? Da sind mir die Hände gebunden; ich habe dazu keine Möglichkeiten mehr«, gab er zurück. »Mir sind die näheren Umstände nicht bekannt, und aufs Geratewohl einzugreifen, könnte mehr schaden als nützen.«
»Ich hatte mich mit dieser Frage nicht auf Thomas bezogen, sondern auf Sie.« Sie hatte ihn weder nach dem Grund seiner Amtsenthebung gefragt noch danach, ob er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, und falls ja, was das war. Mit einem Mal erschien ihr diese Unterlassung als so bedeutend, dass sie Luft holte, um etwas in dieser Richtung zu sagen. Dann aber kam ihr das ungeheuer taktlos vor, so dass sie schwieg.
Das Feuer im Kamin sank in sich zusammen.
Einige Sekunden verstrichen, dann sagte er: »Ich weiß nicht.« Sie konnte sich nicht erinnern, dass seine Stimme je so gezögert hätte. »Ich bin nicht einmal sicher, wer hinter der ganzen Sache steckt. Allerdings habe ich da eine gewisse Vorstellung. Es ist eine ziemlich … üble Geschichte.«
Um Pitts willen musste sie der Sache auf den Grund gehen. »Ist das ein Grund, sich nicht weiter damit zu beschäftigen?«, fragte sie ruhig. »Von selbst kommt das doch sicher nicht in Ordnung.«
Ein Lächeln blitzte auf seinem Gesicht auf. »Nein. Im Übrigen bin ich nicht einmal sicher, ob es überhaupt in Ordnung kommen kann.«
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte sie.
»Wie bitte?«, gab er verblüfft zurück.
»Etwas Besseres habe ich vermutlich nicht«, entschuldigte sie sich. »Aber es ist ungemütlich, wie Sie da am Kamin stehen. Wäre es nicht besser, sich zu setzen?«
Er drehte sich leicht zur Seite und trat nach einem Blick auf die Feuerstelle und die Kaminumrandung einen Schritt zurück. »Ach so, Sie meinen, dass ich dem wärmenden Feuer
»Nein, wohl aber, dass ich einen steifen Hals bekomme, wenn ich den Kopf zur Seite drehen und zu Ihnen aufsehen muss.«
Einen Augenblick lang verschwand der gequälte Ausdruck von seinem Gesicht. »Vielen Dank, aber ich möchte Ihre Mrs … wie auch immer sie heißt, lieber nicht bemühen. Ich kann mich auch ohne Tee setzen, selbst wenn das vielleicht unnatürlich aussieht.«
»Mrs Waterman«, sagte sie.
»Ach ja.«
»Ich wollte ihn selbst machen, immer vorausgesetzt, dass sie mich in die Küche lässt. Sie missbilligt ein solches Verhalten. Ich nehme an, dass Damen der Kreise, für die sie gewöhnlich arbeitet, nicht einmal wissen, wo sich die Küche befindet.«
»Ein gewisser Abstieg für sie«, bemerkte Narraway. »Das kann den Besten von uns widerfahren.«
Er setzte sich, elegant wie immer, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück, als fühle er sich rundum wohl.
»Meiner Vermutung nach könnte es sich um einen alten Fall in Irland handeln«, begann er, wobei er ihr anfangs in die Augen sah, den Blick aber dann verlegen senkte. »Es sieht ganz so aus, als habe es damit zu tun, dass man einen in jüngster Zeit für uns dort tätigen Informanten umgebracht hat, weil ihn das Geld, das ich ihm angewiesen habe, nicht rechtzeitig erreichte, so dass er nicht vor denen fliehen konnte, die er … verraten hatte.« Er sagte das Wort »verraten« so, als untersuche er mit voller Absicht eine Wunde: seine eigene, nicht die eines anderen.
»Ich hatte die Zahlung auf Umwegen vorgenommen, damit man sie nicht zum Sicherheitsdienst zurückverfolgen konnte,
Zögernd suchte sie nach den passenden Worten, wobei sie ihn aufmerksam ansah. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ihr etwas vorenthalten wollte. Sie wartete. Im Raum herrschte völlige Stille, und auch von draußen drang kein Laut herein, weder von den Kindern, die oben schliefen, noch von Mrs Waterman, die vermutlich noch in der Küche war. Bestimmt würde sie ihr Zimmer nicht aufsuchen, solange der Besucher das Haus nicht verlassen hatte.
»Gerade weil ich dafür gesorgt hatte, die Herkunft des Geldes zu verschleiern, ist es mir jetzt unmöglich, genau festzustellen, was damit geschehen ist«, fuhr er fort. »Für Außenstehende sieht es auf den ersten Blick so aus, als hätte ich es selbst an mich genommen.«
Er beobachtete sie unter gesenkten Lidern. Sie sah, dass flüchtig ein Ausdruck von Besorgnis in seine Augen trat und gleich wieder verschwand. Sie bemühte sich, ein möglichst neutrales Gesicht zu machen. Sie wusste nicht, was sie von ihm denken sollte, konnte sich aber um Pitts willen keine Zweifel erlauben.
»Sie haben Feinde«, sagte sie.
Er entspannte sich kaum wahrnehmbar. Genau genommen sah man es lediglich an der leichten Veränderung in der Art, wie sich der Stoff seines Jacketts an den Schultern spannte. Er war nicht besonders groß oder breitschultrig, ein durchschnittlich großer schlanker, drahtiger Mann. Sie sah, dass seine Hände, die auf den Knien lagen, schön waren. Das war ihr früher nie aufgefallen.
»Ja«, erwiderte er. »So ist es. Zweifellos sogar eine ganze Reihe. Ich hatte geglaubt, hinreichende Vorkehrungen dagegen getroffen zu haben, dass sie mir schaden könnten. Dabei scheine ich etwas Wichtiges übersehen zu haben.«
»Oder es handelt sich um jemanden, den Sie nicht verdächtigt hatten«, ergänzte sie.
»Auch das ist möglich«, stimmte er zu. »Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass ein alter Feind eine Machtfülle gewonnen hat, die ich nicht vorausgesehen habe.«