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»Denken Sie an einen Bestimmten?« Sie beugte sich leicht vor. Die Frage war zwar indiskret, aber sie musste es wissen. Pitt befand sich in Frankreich und war darauf angewiesen, dass man ihm den Rücken freihielt. Bestimmt ahnte er nichts davon, dass sein Vorgesetzter nicht mehr im Amt war.

»Ja.« Die Antwort schien ihm schwerzufallen.

Sie wartete wieder.

Er beugte sich vor und legte ein großes Holzscheit auf das Feuer. »Der Fall reicht zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurück. « Seine Stimme klang rau, und er musste sich räuspern, bevor er fortfahren konnte. »Die Leute, die damit zu tun hatten, sind inzwischen alle tot, bis auf einen.«

Sie hatte keine Vorstellung, wovon er sprach, doch schien die Vergangenheit sie eingeholt zu haben.

»Einer lebt also noch?«, fasste sie nach. »Wissen Sie das, oder ist das lediglich eine Vermutung?«

»Ich weiß, dass Kate und Sean tot sind«, sagte er so leise, dass es sie Mühe kostete, die Worte zu hören. »Ich nehme an, dass Cormac noch lebt. Er dürfte nicht einmal sechzig sein.«

»Aber warum hätte er so lange warten sollen?«

»Das weiß ich nicht«, gab er zu.

Sie sah ihn aufmerksam an, wie er in Pitts Sessel ihr gegenüber saß. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich, machte aber keine Anstalten zu gehen und versuchte auch nicht, sich ihr gegenüber zu verteidigen.

»Dennoch nehmen Sie an, dass er Sie hinreichend hasst, um Ihren Untergang zu planen und ins Werk zu setzen?«, fuhr sie fort.

Sie sah seinem Gesicht an, dass sich die Gedanken hinter seiner Stirn jagten, konnte aber nicht erraten, worum es dabei ging.

»Ja. Ich zweifle nicht im Geringsten daran. Er hat allen Grund dazu.«

Überrascht und zugleich voll Mitleid begriff sie, dass er sich für etwas schämte, was geschehen war. Zugleich hoffte sie, nie zu erfahren, worum es dabei ging.

»Was werden Sie unternehmen?«, fragte sie. »Sie müssen kämpfen.«

Er lächelte. Ihr war klar, dass er annahm, sie mache sich Sorgen, weil er nicht weiterhin seine schützende Hand über Pitt halten könnte. Das stimmte zwar, war aber nicht alles, und das hatte auch nicht den Ausschlag für ihre Äußerung gegeben.

Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. »Wenn Sie einige Stunden Ihre Wunden geleckt haben, sollten Sie Ihre Kräfte zusammennehmen und überlegen, was Sie tun wollen.«

Jetzt lächelte er richtig und legte einen natürlichen Humor an den Tag, den sie an ihm noch nicht kannte. »Sprechen Sie so mit Ihren Kindern, wenn sie hingefallen sind und sich die Knie aufgeschürft haben?«, fragte er. »Müssen sie nach einer mitfühlenden Umarmung gleich wieder aufstehen? Ich bin nicht vom Pferd gefallen, sondern in Ungnade, und ich sehe kein Möglichkeit, mich aus dieser Situation zu befreien.«

Ihr Gesicht war noch röter als zuvor. »Heißt das, Sie haben keine Vorstellung, was Sie tun können?«

Er stand auf und strich sich das Jackett auf den Schultern glatt. »Doch. Ich werde nach Irland fahren und versuchen, Cormac O’Neil aufzustöbern. Ich hoffe, auf diese Weise beweisen zu können, dass er dahintersteckt, und meinen Namen reinzuwaschen. Ich werde dafür sorgen, dass Croxdale alles zurücknimmt, was er gesagt hat. Jedenfalls hoffe ich, dass ich das schaffe.«

Sie stand ebenfalls auf. »Gibt es jemanden, dem Sie vertrauen und der Ihnen helfen kann?«

»Nein.« Nur dies eine schlichte Wort. Seine Einsamkeit ließ sich förmlich mit Händen greifen. Dann war es vorüber, als sei ihm Selbstmitleid widerwärtig. »Nicht hier«, fügte er hinzu. »Aber vielleicht finde ich in Irland jemanden.«

Ihr war klar, dass er die Unwahrheit sagte, um zu vertuschen, was ihm herausgerutscht war.

»Ich komme mit«, sagte sie spontan. »Mir können Sie vertrauen, weil wir dieselben Interessen verfolgen.«

Seine Stimme klang vor Verblüffung angespannt, als wage er nicht, ihr zu glauben. »Meinen Sie?«

»Selbstverständlich«, sagte sie und hielt ihre Antwort für vielleicht überstürzt, obwohl sie zugleich sicher wusste, dass es sich so verhielt. »Außer Ihnen hat Thomas im Sicherheitsdienst keinen Freund. Das Überleben meiner Familie könnte davon abhängen, dass Sie imstande sind, Ihre Schuldlosigkeit zu beweisen.«

Auch ihm stieg eine heiße Röte in die Wangen, die aber unter Umständen auf das erneut aufgeflammte Feuer im Kamin zurückging. »Und was könnten Sie tun?«, fragte er.

»Mich umsehen und umhören, Leute fragen, Orte aufsuchen, an denen gesehen zu werden Sie nicht riskieren dürfen, weil man Sie erkennen könnte. Ich bin eine ziemlich gute Kriminalistin – jedenfalls war ich das, als Thomas noch bei der Polizei gearbeitet hat und seine Fälle keiner so strengen Geheimhaltung unterlagen. Zumindest dürfte ich sehr viel besser sein als nichts.«

Er schlug die Augen nieder und wandte sich ab. »Ich könnte das unmöglich zulassen.«

»Ich habe Sie nicht um Ihre Erlaubnis gebeten«, gab sie zurück. »Aber natürlich wäre es deutlich angenehmer, Ihr Einverständnis zu haben«, fügte sie hinzu.

Er gab keine Antwort. Es war das erste Mal, dass sie ihn so unsicher sah. Sogar als sie vor längerer Zeit entsetzt bemerkt hatte, dass er sie anziehend fand, hatte zwischen ihnen stets eine gewisse Distanz bestanden. Er war Pitts Vorgesetzter, klug, hart und allem Anschein nach unverwundbar: ein Mann, der jederzeit Herr der Situation war und so manches wusste, wovon andere nichts ahnten. Jetzt wirkte er unentschlossen, verletzlich, und er beherrschte die Situation ebenso wenig wie sie.

»Sie und ich haben ein und dasselbe Ziel«, begann sie. »Wir müssen feststellen, wer hinter dieser Intrige steht, und ihr ein Ende bereiten. Es geht um unser beider Überleben. Sofern Sie annehmen sollten, dass ich nicht kämpfen kann oder werde, weil ich eine Frau bin, sind Sie weniger klug, als ich gedacht hätte, und das kann ich mir offen gestanden nicht vorstellen. Vermutlich haben Sie einen anderen Grund. Entweder ist Ihnen Ihr Stolz wichtiger als Ihr Überleben, oder Sie haben Angst, ich könnte etwas entdecken, irgendeine Unwahrheit, die nicht ans Licht kommen soll. Was mich betrifft, ist mir das Überleben wichtiger als mein Stolz.« Sie holte tief Luft. »Und für den Fall, dass ich Ihnen behilflich sein könnte, würden Sie mir nichts schulden, weder moralisch noch sonstwie. Mir ist wichtig, was mit Ihnen geschieht. Ich würde es nicht gern sehen, wenn man Sie zugrunde richtete, denn Sie haben meinem Mann unter die Arme gegriffen, als er dringend darauf angewiesen war. Weit wichtiger aber ist im Augenblick, dass ich mitkommen will, um meine Familie zu retten.«

»Jedes Mal, wenn ich glaube, etwas über Sie zu wissen, überraschen Sie mich«, bemerkte er. »Nur gut, dass Sie nicht mehr der feinen Gesellschaft angehören – die würde Sie nie überleben. Deren Angehörige sind eine so unverblümte Offenheit nicht gewöhnt und würden gar nicht wissen, was sie mit Ihnen anfangen sollten.«

»Um die brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn es nicht anders geht, kann ich ebenso gut heucheln wie andere auch«, gab sie zurück. »Ich begleite Sie nach Irland. Sie müssen der Sache an Ort und Stelle nachgehen und können das nicht allein, weil zu viele Menschen dort Sie bereits kennen. Sie haben es selbst gesagt. Aber ich brauche einen guten Vorwand, um eine gemeinsame Reise mit Ihnen zu rechtfertigen, weil wir sonst einen noch größeren Skandal heraufbeschwören würden. Darf ich für diese Unternehmung Ihre Schwester sein?«

»Wir sehen uns aber doch nicht im Geringsten ähnlich«, sagte er mit schiefem Lächeln.

»Dann eben Ihre Halbschwester, falls man fragt«, schlug sie vor.

»Natürlich haben Sie Recht«, räumte er ein. Seine Stimme klang müde. Jeglicher Anflug von Unernst war daraus verschwunden. Die Sache hatte ihn bis ins Mark getroffen, und ihm war bewusst, dass es töricht wäre, die einzige Hilfe zurückzuweisen, die man ihm angeboten hatte. »Aber Sie werden auf mich hören und tun, was ich Ihnen sage. Ich kann es mir nicht leisten, meine Zeit oder Kraft damit zu vergeuden, dass ich mich um Sie kümmern oder mir um Sie Sorgen machen muss. Sind wir uns in dem Punkt einig?«