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Bei Widrigkeiten solcher Art hatte sich Gracie stets der Situation gewachsen gezeigt.

Charlotte erhob sich, wusch sich die Hände in nahezu kaltem Wasser und nahm die Schürze ab. Das war es: sie würde Gracie um Rat fragen. Es war mehr oder weniger ein Akt der Verzweiflung, ihr junges Glück so früh zu stören, aber es handelte sich ja auch um eine verzweifelte Situation. Gebe der Himmel, dass Gracie zu Hause war.

Es war keine sehr lange Fahrt mit dem Pferdeomnibus zu dem kleinen Haus aus rotem Ziegelstein, dessen ganzes Erdgeschoss Gracie und Tellman für sich hatten, so dass sie auch den Vorgarten nutzen konnten. Für ein so junges Paar war das durchaus beachtlich, allerdings war Tellman auch zwölf Jahre älter als Gracie und hatte sich seine Beförderung zum Polizeiwachtmeister hart erarbeitet. Pitt bedauerte nach wie vor, sich nicht mehr auf seine Dienste stützen zu können.

Mit angehaltenem Atem klopfte Charlotte an die Haustür. Falls Gracie nicht zu Hause war, wüsste sie nicht, an wen sie sich als Nächstes wenden sollte.

Doch die Tür öffnete sich, und Gracie stand vor ihr. Sie trug ihre eleganten Schnürschuhe und endlich ein Kleid, das

»Mrs Pitt! Se sind gekomm’n, um mich zu besuch’n! Samuel is’ nich’ da, der is’ schon zur Arbeit, aber komm’ Se doch rein, ich mach uns ’ne Tasse Tee.« Sie öffnete die Tür, so weit es ging, und trat einen Schritt zurück.

Charlotte nahm die Einladung an und zwang sich, erst einmal an Gracies neues Heim, ihren Stolz und ihr Glück zu denken, statt mit ihrem Anliegen herauszuplatzen. Durch den Gang, dessen Linoleumboden auf Hochglanz gebohnert war, folgte sie ihr in die kleine nach hinten hinaus liegende Küche. Auch dort war alles blitzblank und roch trotz der frühen Morgenstunde frisch nach Zitrone und Kernseife. Das Feuer im Herd brannte, und auf dem Fensterbrett standen Formen mit gründlich geknetetem Brotteig, der aufgehen sollte, bevor Gracie sie in die Backröhre schob.

Sie zog den Wasserkessel auf die Ringe, stellte eine Teekanne mit Tassen auf den Tisch und holte dann Milch aus der Speisekammer.

»Ich hab Kuch’n im Haus, wenn Se woll’n«, bot sie an. »Aber vielleicht hätt’n Se lieber Toast mit Konfitüre?«

»Ehrlich gesagt wäre mir ein Stück Kuchen am liebsten, falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Charlotte. »Ich habe schon eine ganze Weile keinen guten Kuchen mehr gegessen. Da Mrs Waterman nichts vom Kuchenbacken hielt, waren die Ergebnisse dementsprechend, wenn sie doch einen machte. Was sie buk, lag wie Blei im Magen.«

Gracie nahm den Kuchen aus dem Schrank und stellte Teller auf den Tisch. Charlotte musste lächeln, als sie sah, dass alles am Tellerregal genau so war wie in der Keppel Street, wo sich Gracie so lange um den Haushalt gekümmert hatte: Die

»Is’ se denn weg?«, fragte Gracie besorgt.

»Mrs Waterman? Ja, leider. Sie hat gestern Abend gekündigt und ist gleich gegangen. Genauer gesagt, hat sie gestern am späten Abend gekündigt und stand heute am frühen Morgen mit ihrem Koffer in der Diele, als ich herunterkam.«

Gracie war sichtlich verblüfft. Sie stellte den Kuchen auf den Tisch und sah dann Charlotte betrübt an. »Was hat se denn gemacht? Se ham se doch nie und nimmer ohne Grund vor de Tür gesetzt?«

»Ich habe sie überhaupt nicht vor die Tür gesetzt«, gab Charlotte zurück. »Sie hat mir wirklich gekündigt, einfach so …«

»So was kann se doch nich’ mach’n.« Gracie unterstrich ihre Worte mit einer Handbewegung, die deutlich zeigte, wie sehr sie diesen Gedanken missbilligte. »So kriegt die doch nie ’ne neue Stellung, jed’nfalls keine vernünftige.«

»Es ist viel geschehen«, sagte Charlotte ruhig.

Gracie setzte sich ihr gegenüber und beugte sich ein wenig vor. Ihr Gesicht war von einem Augenblick auf den anderen bleich geworden. »Mr Pitt fehlt doch nix …?«, fragte sie. Charlotte hörte, dass in Gracies Stimme mit einem Mal Besorgnis mitschwang.

»Nein«, beeilte sie sich, ihr zu versichern. Das hätte sie gleich sagen müssen, damit Gracie gar nicht erst auf solche Gedanken kam. »Er ist dienstlich in Frankreich und kann erst zurückkommen, wenn der Fall abgeschlossen ist. Man hat Mr Narraway durch eine Intrige aus dem Amt entfernt, und das kann auch für Mr Pitt sehr schwerwiegende Auswirkungen haben.« Gracie die Wahrheit vorzuenthalten hatte keinen Sinn, und ganz davon abgesehen wäre es ihr gegenüber auch

Gracie war entsetzt. »Das is gemein!«

»Er nimmt an, dass ein alter Feind dahintersteckt. Möglicherweise macht der gemeinsame Sache mit einem neuen, der auf seinen Posten scharf ist«, teilte ihr Charlotte mit. »Mr Pitt weiß nichts davon und verlässt sich darauf, dass Mr Narraway tut, was er kann, um ihn von hier aus bei seiner Aufgabe zu unterstützen. Er ahnt nicht, dass er jetzt auf einen anderen angewiesen ist, der möglicherweise nicht so unverbrüchlich zu ihm steht wie Mr Narraway.«

»Un’ was mach’n wir da?«, erkundigte sich Gracie sofort.

Eine plötzliche Dankbarkeit erfüllte Charlotte angesichts Gracies unwandelbarer Treue. Sie spürte, wie ihr warm ums Herz wurde und ihr die Tränen in die Augen traten. Doch das war nicht der richtige Augenblick, um sich ihren Gefühlen hinzugeben.

»Mr Narraway vermutet, dass das Ganze mit einem Fall zu tun hat, den man ihm vor zwanzig Jahren in Irland übertragen hatte. Deshalb will er dort hinreisen, um seinen Feind aufzuspüren, damit er versuchen kann, seine Schuldlosigkeit zu beweisen. «

»Aber kann er das alleine? Mr Pitt is’ nich’ da un’ kann ’m nich’ helf ’n«, gab Gracie zu bedenken. »Kennt der Feind ’n denn nich’, oder rechnet er womöglich nich’ damit, dass er kommt?« Die freudige Röte, die ihr Gesicht beim Anblick Charlottes überzogen hatte, war dahin. »Das wär doch dumm. Se müss’n ’m sag’n, dass er sich das gut überleg’n soll!«

»Ich muss ihm helfen, Gracie. Die Leute im Sicherheitsdienst, die ihn in diese Situation gebracht haben, sind auch Mr Pitts Feinde, und deswegen müssen wir um unser aller willen dafür sorgen, dass er sein Ziel erreicht.«

»Se woll’n nach Irland? Se woll’n ’m helf’n …« Gracie streckte die Hand aus, als wolle sie diese auf Charlottes Hand legen, die auf dem Tisch ruhte, zog sie aber dann verlegen wieder zurück. Auch wenn sie nicht mehr Charlottes Dienstmädchen war, würde sie sich mit einer solchen Geste trotz all der Jahre, die sie mit ihr unter ein und demselben Dach gelebt hatte, zu viel herausnehmen. Sie holte tief Luft. »Ja, das müss’n Se unbedingt tun.«

»Es ist auch meine feste Absicht«, versicherte ihr Charlotte. »Aber um die Reise unternehmen zu können, muss ich eine Frau finden, die Mrs Watermans Aufgabe übernimmt, denn sie hat mich heute Morgen voll moralischer Entrüstung verlassen, weil Mr Narraway nach Einbruch der Dunkelheit mit mir allein im Wohnzimmer war.«

Wechselnde Empfindungen traten auf Gracies Züge. Zorn, Empörung, Ungehaltenheit, aber auch eine gewisse Belustigung.

»So ’ne blöde alte Schachtel!«, sagte sie mit Nachdruck und voll Abscheu. »Man sollte nich glaub’n, was für ’ne versaute Fantasie manche von den verdorrt’n alt’n Jungfern ha’m. Aber Mr Narraway kann Se tatsächlich gut leid’n.« Einen Augenblick lang ließ ein Lächeln ihre Augen leuchten, war aber sogleich wieder verschwunden. Als sie noch für Charlotte gearbeitet hatte, hätte sie das wohl nicht zu sagen gewagt, aber jetzt war sie eine achtbare Ehefrau und befand sich in der unübersehbar liebevoll gepflegten Küche ihrer eigenen Wohnung. Sie hätte nicht einmal mit der Königin tauschen wollen – und sie hatte der Königin von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, was nicht viele von sich sagen konnten.

»Meine Schwester Emily ist verreist und meine Mutter ebenfalls«, erklärte Charlotte ihr mit betrübter Stimme. »Ich brauche unbedingt eine Betreuerin für Jemima und Daniel, denn ich kann die beiden unmöglich allein lassen. Aber wo soll ich so rasch eine finden, der ich voll und ganz vertrauen kann? Wer kann mir so eine Frau rückhaltlos empfehlen?«