Gracie schwieg lange. Charlotte, der aufging, dass sie da eigentlich eine unmögliche Frage gestellt hatte, sagte rasch: »Entschuldigung, das war ungehörig.«
Der Kessel auf dem Herd begann zu pfeifen, ein Zeichen, dass das Wasser anfing zu sieden. Gracie stand auf, nahm ein Tuch, um sich nicht die Hand zu verbrennen, und zog ihn von den Ringen zur Seite. Sie gab ein wenig dampfendes Wasser in die Kanne, um sie vorzuwärmen, schwenkte sie aus und brühte den Tee auf. Dann stellte sie die heiße Kanne vorsichtig auf einen Metalluntersetzer und setzte sich wieder.
»Ich«, sagte sie.
Charlotte zwinkerte. »Wie bitte?«
»Ich wüsste da jemand. Minnie Maude Mudway. Wir kenn’ uns aus Spitalfields, aus der Zeit, bevor ich zu Ihn’n gekomm’n bin. Se hat dicht bei dem Haus gewohnt, wo ich auch war, gleich um de Ecke, ’n paar Straß’n weiter. Man hat ihr’n Onkel umgebracht, und ich hab ihr geholf ’n rauszukrieg’n, wer’s war. Wiss’n Se noch?«
Charlotte war verwirrt und versuchte vergeblich, sich zu erinnern.
»Se sind damals als Maria auf ’m Esel geritt’n, für das Kripp’n-spiel«, versuchte Gracie Charlottes Erinnerung aufzufrischen. »Damals war Minnie Maude acht, aber jetz’ is se erwachs’n. Auf Minnie is’ Verlass, die gibt nie auf. Ich such se für Sie. Un’ ich geh auch selber jed’n Tag inne Keppel Street un’ seh nach, ob alles in Ordnung is’.«
Nachdenklich ließ Charlotte ihren Blick zwischen Gracies kleinem ernsthaftem Gesicht, der sacht vor sich hin dampfenden Teekanne und dem selbstgebackenen Kuchen mit den vielen Rosinen darin hin und her wandern.
»Danke«, sagte sie leise. »Das wäre wunderbar. Wenn Sie jeden Tag hingehen, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. «
Mit zufriedenem Lächeln fragte Gracie: »Woll’n Se ’n Stück Kuch’n?«
»Ja, gern.«
Bereits um drei Uhr am Nachmittag hatte Charlotte ihren Koffer gepackt, damit sie am nächsten Morgen mit Narraway den Zug besteigen konnte, falls alles wie geplant ablief. Sie war unruhig und konnte sich auf nichts richtig konzentrieren. Sie wollte das Gemüse für das Abendessen putzen, vergaß, was sie hatte auf den Tisch bringen wollen, dann fiel ihr noch etwas ein, was sie unbedingt einpacken musste. Zweimal glaubte sie jemanden an der Tür zu hören, doch als sie nachsah, war niemand da. Dreimal kontrollierte sie, ob die Kinder ihre Hausaufgaben machten.
Endlich ertönte das Klopfen, dessen Rhythmus ihr so vertraut war. Sogleich wandte sie sich um und rannte fast zur Tür, um zu öffnen.
Neben Gracie, die so strahlend lächelte, dass es ihr ganzes Gesicht erhellte, stand eine schlanke junge Frau, eine gute Handbreit größer als sie, der es offenbar nicht recht gelingen wollte, ihre widerspenstige Haarpracht zu bändigen. Obwohl Gracies Begleiterin ziemlich nervös zu sein schien, fiel Charlotte sogleich die Klugheit in deren Augen auf.
»Das is’ Minnie Maude«, verkündete Gracie mit einer Stimme wie ein Zauberkünstler, der ein Kaninchen aus dem Zylinderhut zieht.
Minnie Maude machte einen leicht ungelenken Knicks. Unübersehbar war sie im Knicksen nicht sonderlich geübt.
Charlotte konnte ein Lächeln nicht unterdrücken – es hatte nicht das Geringste mit Belustigung zu tun, sondern war Ausdruck ihrer Erleichterung. »Schön, dass Sie da sind, Minnie Maude. Kommen Sie bitte herein. Ich nehme an, dass Gracie Ihnen meine Lage bereits geschildert hat, und so können Sie sich denken, wie froh ich bin, Sie zu sehen.« Sie öffnete die Tür ein Stück weiter, wandte sich um und ging den Besucherinnen voraus in die Küche – erstens, weil es dort wärmer war, und zweitens, weil die Minnie Maudes Reich sein würde, falls sie die Stellung antrat.
»Bitte nehmen Sie Platz«, forderte sie die beiden auf. »Möchten Sie eine Tasse Tee?« Es war eine rhetorische Frage, denn Besucher bekamen immer Tee.
»Ich mach ihn«, sagte Gracie.
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, entgegnete ihr Charlotte. »Sie arbeiten hier nicht, sondern sind mein Gast.« Als sie den verblüfften Ausdruck auf Gracies Gesicht sah, fügte sie »bitte« hinzu.
Gracie setzte sich. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen.
Charlotte machte sich an die Zubereitung des Tees. Da sie keinen Kuchen hatte, schnitt sie Brot in hauchdünne Scheiben, die sie mit Butter bestrich und mit dünnen Scheiben von Gurke und hartgekochtem Ei belegte. Selbstverständlich wäre auch Konfitüre im Hause gewesen, allerdings war es dafür ein wenig zu früh am Nachmittag.
»Gracie hat mir gesagt, dass Sie beide einander schon lange kennen«, begann Charlotte, während sie so beschäftigt war.
»Ja, Ma’am, seit ich acht war«, gab Minnie Maude zurück. »Se hat mir geholf’n, wie man mein’n Onkel Alf umgebracht un’ Charlie geklaut hat.« Sie holte tief Luft, als wolle sie noch mehr sagen, unterließ es aber.
Da Charlotte mit dem Rücken zum Tisch stand, konnten die beiden jungen Frauen ihr Lächeln nicht sehen. Sie stellte sich vor, wie Gracie ihre Freundin angewiesen hatte, möglichst nur auf die Fragen zu antworten, die man ihr stellte.
»Hat sie Ihnen auch gesagt, dass mein Mann im Sicherheitsdienst tätig ist?«, fragte sie. »Dabei handelt es sich um eine Art Polizei, deren Aufgabe es ist zu verhindern, dass Menschen Unruhe im Lande schüren oder zum Aufstand aufrufen. «
»Ja, Ma’am. Se hat auch gesagt, dass er der beste Kriminaler von ganz England is’«, gab Minnie Maude zurück. Die Begeisterung und Bewunderung in ihrer Stimme waren nicht zu überhören.
Charlotte brachte den Teller mit Broten von der Anrichte und stellte ihn auf den Tisch.
»Das ist wohl ein wenig übertrieben, aber er ist wirklich gut«, erwiderte sie. »Im Augenblick befindet er sich wegen einer unvorhergesehenen Wendung eines Falles im Ausland. Meine bisherige Haushaltshilfe hat mir Knall auf Fall gekündigt, weil sie etwas missverstanden hat und der Ansicht war, nicht länger hierbleiben zu können. Ich muss morgen wegen einer weiteren Schwierigkeit, die ebenfalls nicht vorherzusehen war, sehr früh zu einer längeren Reise aufbrechen.« Was sie sagte, klang sogar in ihren eigenen Ohren sonderbar.
»Gewiss, Ma’am.« Minnie Maude nickte ernsthaft. »Gracie sagt, es geht um ’n sehr wichtig’n Herrn, vor dem se große Achtung hat. Se sagt, dass ’m jemand was anhäng’n will, was er nich’ gemacht hat, un’ Se woll’n ’m helf ’n, weil sich das so gehört.«
Charlotte entspannte sich ein wenig. »Genau so ist es. Bedauerlicherweise geschehen bei uns im Hause von Zeit zu Zeit unerwartete Dinge. Aber für Sie besteht nicht die geringste Gefahr. Andererseits ist Ihre Aufgabe mit einem hohen Maß
»Ja, Ma’am. Ich war schon mal bei Herrschaft’n im Dienst, aber die sin’ gestorb’n un’ ich hab noch keine neue Stelle gefund’n. Gracie hat gesagt, se will jed’n Tag vorbeikomm’n un’ seh’n, ob alles in Ordnung is’.« Bei diesen Worten sah Minnie Maude Charlotte unverwandt und mit leicht ängstlichem Gesicht an.
Diese richtete den Blick auf Gracie und erkannte die Zuversicht in ihren Augen. Da sie neben ihr saß, sah sie auch, dass sie ihre kleinen Hände fest im Schoß ineinandergeschlungen hatte. Sie traf ihre Entscheidung.
»In dem Fall würde ich Sie gern mit sofortiger Wirkung als Hausmädchen einstellen, Minnie Maude. Es tut mir leid, dass die Sache so sehr eilt. Daher, wie auch zum Ausgleich dafür, dass Sie ausgerechnet in der ersten Zeit allein sein werden, die in einer neuen Stellung immer die schwierigste ist, gebe ich Ihnen für den ersten Monat das doppelte Gehalt.«
Minnie Maude schluckte. »Viel’n Dank, Ma’am.«
»Nachher werde ich Ihnen Jemima und Daniel vorstellen. Normalerweise sind es brave Kinder, die Ihnen als einer Freundin Gracies sicher von Anfang an wohlgesonnen sein werden. Jemima weiß von fast allem im Hause, wo es sich befindet, und wird Ihnen gern helfen, wenn Sie sie darum bitten. Wahrscheinlich wird sie sogar stolz darauf sein. Aber lassen Sie ihr keine Ungezogenheiten durchgehen. Das gilt natürlich auch für Daniel. Vermutlich wird er es probieren, einfach, um zu sehen, wie weit er bei Ihnen gehen kann. Zeigen Sie ihm bitte in einem solchen Fall unverzüglich seine Grenzen auf.«