Da das Wasser inzwischen heiß war, goss sie den Tee auf und stellte die Kanne auf den Tisch. Während er zog, sprach sie einige weitere Dinge in Bezug auf den Haushalt an, die
»Ich lasse Ihnen eine Liste unserer Lieferanten hier und schreibe die Preise dazu, obwohl ich vermute, dass Sie sich da auskennen. Aber möglicherweise versuchen die Leute aufzuschlagen, wenn sie annehmen, dass Sie nicht wissen, wie viel ich üblicherweise bezahle.« Anschließend teilte sie ihr Daniels und Jemimas Lieblingsgerichte mit und erklärte, welche Gemüsesorten sie vermutlich abzulehnen versuchen würden. »Und machen Sie ihnen Reispudding«, sagte sie zum Schluss, »aber höchstens zweimal die Woche. Es soll etwas Besonderes bleiben.«
»Mit Muskat?«, fragte Minnie Maude.
Charlotte warf einen Blick zu Gracie hinüber, dann lächelte sie entspannt und zufrieden. »Ganz genau. Ich glaube, Sie werden gut miteinander auskommen.«
KAPITEL 4
Gracie und Minnie Maude kamen am frühen Abend wieder, begleitet von Tellman, der Minnie Maudes Koffer trug. Er brachte ihn nach oben in das Zimmer, das Gracie vor nicht allzu langer Zeit bewohnt hatte, dann verabschiedeten er und Gracie sich und gingen nach Hause. Minnie Maude packte aus und räumte ein, wobei ihr Jemima half und Daniel aus respektvoller Entfernung zusah. Kleidungsstücke waren Frauensache.
Nachdem sich Charlotte vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, rief sie Großtante Vespasia an, um zu fragen, ob sie sie aufsuchen dürfe. Zu ihrer großen Erleichterung war sie zu Hause.
»Deine Stimme klingt so ernst«, sagte Lady Vespasia. Charlotte verstand sie nur schlecht, weil es in der Leitung knisterte.
»Ja, es gibt viel zu berichten, und ich würde dich gern um Rat fragen – allerdings lieber unter vier Augen als am Telefon. Ein großer Teil davon ist äußerst vertraulich.«
»Dann solltest du am besten zu mir kommen«, gab Lady Vespasia zurück. »Ich schicke dir meine Kutsche. Geht es bei dir gleich? Wir könnten dann miteinander zu Abend essen. Es gibt überbackenen Käsetoast, dazu einen sehr guten Rheinwein
»Wunderbar«, nahm Charlotte die Einladung an. »Ich sehe nur noch nach, ob sich meine neue Haushaltshilfe schon vollständig eingerichtet hat und weiß, was sie den Kindern zu Abend machen soll, dann bin ich zum Aufbruch bereit.«
»Ich dachte, die hättest du schon, seit Gracie geheiratet hat«, rief Lady Vespasia erstaunt aus. »Kann sie denn immer noch nicht selbst entscheiden, was sie kochen soll?«
»Mrs Waterman hat mir gestern Abend gekündigt und ist heute Morgen gegangen«, erläuterte Charlotte. »Gracie hat für mich eine junge Frau gefunden, die sie schon seit Kindertagen kennt, aber sie ist gerade erst angekommen und noch beim Auspacken.«
»Charlotte?« Vespasias Stimme klang besorgt. »Ist etwas Ernsthaftes vorgefallen?«
»Ja. Nun … wir leben alle noch und sind gesund, aber doch, es ist ernst. Ich weiß nicht recht, ob es klug ist, was ich mir vorgenommen habe, oder ob ich es lieber bleiben lassen soll.«
»Und da willst du mich um Rat bitten? Wenn du bereit bist, auf einen anderen Menschen zu hören, muss es sich in der Tat um etwas Ernsthaftes handeln«, sagte Lady Vespasia mit leichtem Spott in der Stimme, der aber lediglich ihre Besorgnis überdecken sollte.
»Genaugenommen«, gestand ihr Charlotte, »habe ich bereits mein Wort gegeben.« Als sie merkte, wie endgültig das klang, fröstelte sie unwillkürlich.
»Ich schicke dir sofort meinen Kutscher«, teilte ihr Lady Vespasia mit. »Wenn Gracie dir die neue Hilfe empfohlen hat, kannst du dich bestimmt auf sie verlassen. Nimm einen Umhang mit, der Abend ist ziemlich kühl.«
»Ja«, sagte Charlotte, verabschiedete sich und hängte den Hörer auf den Haken.
Eine halbe Stunde später klingelte Lady Vespasia Cumming-Goulds Kutscher an der Tür. Charlotte war überzeugt, das Haus unbesorgt verlassen zu können, als sie sah, dass Daniel und Jemima mit Minnie Maude nicht nur schon ein wenig warm geworden zu sein schienen, sondern ihr bereitwillig alle Schränke und Schubladen zeigten und ihr erklärten, was sie enthielten.
Charlotte bat den Kutscher, ein wenig zu warten, und ging noch einmal in die Küche. Einen Augenblick lang sah sie zu, wie Jemima mit ernster Miene Minnie Maude erklärte, in welchem Krug morgens jeweils die Milch geholt wurde und wo sie den Milchmann finden konnte. Daniel trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, weil auch er unbedingt Ratschläge von sich geben wollte, und Minnie Maude lächelte abwechselnd den beiden zu.
»Es kann sein, dass ich ziemlich spät zurückkomme«, unterbrach Charlotte die Unterhaltung der drei. »Sie brauchen nicht auf mich zu warten.«
»Sehr wohl, Ma’ am«, sagte Minnie Maude rasch. »Aber das macht mir nix aus.«
»Danke, es ist wirklich nicht nötig«, teilte ihr Charlotte mit. »Gute Nacht.«
Sie ging hinaus und bestieg die Kutsche für die halbstündige Fahrt zu Lady Vespasias Haus, Gladstone Park. Genaugenommen handelte es sich nicht um einen Park, sondern um einen von blühenden Bäumen umstandenen viereckigen Platz. Unterwegs bemühte sie sich, ihre Gedanken zusammenzunehmen und zu überlegen, auf welche Weise sie Tante Vespasia darlegen wollte, was sie zu tun gedachte.
Das Mädchen führte sie in den in warmen, gedämpften Farben gehaltenen Salon, in dem Lady Vespasia, die sich noch
Lady Vespasia hatte in der höheren Gesellschaft einst nicht nur als schönste Frau ihrer Generation gegolten, sondern zugleich auch als ein Mensch, der mit großer Leidenschaft in solchen Kreisen unerhörte politische Ansichten vertrat. Die Jahre hatten durchaus Spuren in ihren Zügen hinterlassen, ihr Temperament aber eher noch verstärkt. Angesichts ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung und ihrer gesicherten finanziellen Verhältnisse brauchte sie sich nicht darum zu kümmern, was andere von ihr dachten, und so tat sie, was sie für richtig hielt. Kritik mochte schmerzlich sein, doch die Zeit, da sie sich dadurch von etwas hatte abhalten lassen, lag lange zurück.
Anders als bei Charlotte, deren Frisur immer dazu neigte, sich aufzulösen, saß Lady Vespasias silbergraues Haar in vollkommener Weise. Ein hoher Spitzenkragen umschloss ihren Hals, und eine dreireihige Perlenkette schimmerte im Licht der Lampen.
»Wir essen erst in einer Stunde«, teilte sie Charlotte mit, »du hast also Zeit, mir die ganze Geschichte ausführlich zu erzählen. «
Was den Anfang betraf, hatte Charlotte keine Zweifel. »Vor vier Tagen ist Mr Narraway abends in die Keppel Street gekommen, um mir mitzuteilen, dass Thomas und sein Mitarbeiter einen Mann, der nahezu vor ihren Augen einen Mord begangen hatte, bis über den Kanal nach Frankreich verfolgen mussten, ohne vorher jemanden darüber informieren zu können.
Vespasia nickte. »Das war sehr aufmerksam von ihm«, bemerkte sie trocken.
Der spöttische Unterton in ihrer Stimme entging Charlotte nicht, und sie hob fragend den Blick.
»Er hat ein Auge auf dich geworfen, meine Liebe«, erklärte ihr Lady Vespasia mit kaum verhüllter Belustigung. »Aber was hat das mit deiner Hausangestellten zu tun?«
Charlotte sah nacheinander auf die zugezogenen Vorhänge und den Teppich mit dem blassen Blumenmuster. »Er ist gestern Abend noch einmal gekommen«, sagte sie ruhig. »Und sehr viel länger geblieben.«
Mit kaum wahrnehmbar veränderter Stimme sagte Lady Vespasia: »Ach ja?«
Charlotte hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Im Sicherheitsdienst scheint es eine Art Verschwörung zu geben, deren Ziel es ist, den Eindruck zu erwecken, als habe Mr Narraway einen ziemlich hohen Geldbetrag unterschlagen.« Als sie Lady Vespasias ungläubigen Blick sah, fügte sie hinzu: »Man hat ihn wegen dieses Vorwurfs von einem Augenblick auf den anderen seines Amtes enthoben.«