»Ach je«, sagte Lady Vespasia. Es klang vieldeutig. »Jetzt verstehe ich, warum du so betroffen bist. Das ist in der Tat eine ernsthafte Geschichte. Victor hat gewiss seine Schwächen, aber Veruntreuung von Geldern gehört nicht dazu. Geld interessiert ihn nicht und bedeutet für ihn daher nicht die geringste Versuchung.«
Charlotte erschien diese Äußerung nicht gerade beruhigend. Welche Schwächen meinte Tante Vespasia da wohl? Sie schien ihn erstaunlich gut zu kennen. Zwar hatte sie sich für
Sie spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Lächelnd sagte sie: »Ich hatte ihm das auch nicht zugetraut. Allerdings scheint es in seiner Vergangenheit etwas zu geben, was ihn zutiefst beunruhigt. «
»Das dürfte eine ganze Menge sein«, gab Lady Vespasia mit dem Anflug eines Lächelns zurück. »Er hat viele Facetten, aber nichts liegt ihm mehr am Herzen als seine Arbeit, und auf diesem Gebiet ist er am verwundbarsten.«
»Dann würde er ja wohl selbst nichts tun, um seine Anstellung aufs Spiel zu setzen, nicht wahr?«
»Bestimmt nicht. Offensichtlich ist es jemandem wichtig, ihn aus dem Amt zu drängen und zu erreichen, dass er bei der Regierung Ihrer Majestät jede Glaubwürdigkeit einbüßt. Dafür kann man sich eine ganze Reihe von Gründen denken, und da ich nicht ahne, welcher hier in Frage kommen könnte, weiß ich auch nicht recht, wo ich anfangen soll.«
»Wir müssen ihm helfen.« Es war Charlotte alles andere als recht, mit dieser Bitte an Tante Vespasia heranzutreten, aber Not kannte nun einmal kein Gebot. »Es geht ja nicht nur um ihn, sondern auch um Thomas. Er gilt in Lisson Grove als Mr Narraways Schützling. Wenn Narraway nicht mehr da ist, besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Anstifter dieser Intrige als Nächstes versuchen werden, auch Thomas aus dem Weg zu räumen …«
»Das versteht sich von selbst, du brauchst es mir also nicht ausdrücklich zu erklären, meine Liebe«, fiel ihr Lady Vespasia
»Hättest du Freunde, die …«, setzte Charlotte an.
»Da mir das Motiv unbekannt ist und ich nicht weiß, wer dahintersteckt«, gab Lady Vespasia zur Antwort, bevor Charlotte ihre Frage beenden konnte, »wüsste ich nicht, wem ich in diesem Zusammenhang vertrauen könnte.«
»Victor … Mr Narraway …« Charlotte spürte, wie ihr eine leichte Hitze ins Gesicht stieg. »… vermutet, dass es mit einem Fall in Irland zu tun haben könnte, der zwanzig Jahre zurückliegt und für den sich jemand an ihm rächen möchte. Mehr hat er mir darüber nicht gesagt, daher nehme ich an, dass ihm die Sache unangenehm ist.«
»Zweifellos.« Einen kurzen Augenblick lang blitzte ein Funke Humor in Lady Vespasia Augen auf. »Zwanzig Jahre soll das zurückliegen? Warum dann die Rache erst jetzt? Zwar sind die Iren dafür bekannt, dass sie einen Groll ebenso wenig vergessen wie einen Gefallen, den man ihnen schuldet, aber sie pflegen mit der Abrechnung nicht zu warten, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
»Könnte hier nicht jemand nach dem Grundsatz handeln: ›Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt genießt‹?«, gab Charlotte zu bedenken.
»Gewiss, meine Liebe. Aber in diesem Fall wäre sie nicht kalt, sondern steif gefroren. Meiner Vermutung nach steckt mehr dahinter als persönliche Rache, doch weiß ich natürlich nicht, was das sein könnte. Aber was hat das Ganze damit zu tun, dass dich deine Hausangestellte verlassen hat? Kann es sein, dass du … vergessen … hast, mir das zu sagen?«
Charlotte fühlte sich unbehaglich. Wäre Tante Vespasia weniger zartfühlend oder weniger besorgt gewesen, hätte diese Mahnung sie entrüstet.
»Ach so, ja … Mr Narraway ist nach Einbruch der Dunkelheit gekommen, und da das, was wir zu besprechen hatten, aus verständlichen Gründen nicht für fremde Ohren bestimmt war, hat er die Wohnzimmertür geschlossen. Ich habe den Eindruck, dass mich Mrs Waterman … für eine Frau … von zweifelhafter Tugend gehalten hat. Deshalb hat sie erklärt, es sei ihr nicht möglich, länger in einem Haus zu bleiben, dessen Herrin sich mit ›anstößigen Dingen‹ abgibt, wie sie sich auszudrücken beliebte.«
»In dem Fall wird sie bei ihrer nächsten Stellensuche keine große Auswahl haben«, sagte Lady Vespasia. » Vor allem dann nicht, wenn sie solche Maßstäbe auch an den Hausherrn anlegt. «
»Davon hat sie nichts gesagt.« Charlotte biss sich auf die Lippe, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. »Doch hätte sie bestimmt vor Entrüstung das Haus noch zur selben Stunde verlassen, auf die Gefahr hin, sich am späten Abend mit ihrem Koffer in der Hand allein auf der Straße wiederzufinden, wenn sie gewusst hätte, dass ich Mr Narraway versprochen habe, ihn nach Irland zu begleiten, um ihn bei der Aufdeckung der Wahrheit nach Kräften zu unterstützen. Ich muss es ihm ermöglichen, seinen Namen reinzuwaschen, denn die Leute, die ihm das eingebrockt haben, sind zwangsläufig auch Thomas’ Feinde. Ohne Narraway in Lisson Grove wäre er ihnen hilflos ausgeliefert – und was würden wir dann tun?«
Lady Vespasia schwieg eine Weile. »Gib acht, was du tust, Charlotte«, sagte sie mit ernster Stimme. »Ich weiß nicht, ob dir klar ist, wie gefährlich das werden kann.«
Charlotte ballte die Fäuste. » Was soll ich denn deiner Ansicht nach tun? Untätig hier in London herumsitzen, während man Mr Narraway voll Heimtücke zugrunde richtet, und dann darauf warten, dass Thomas sein Schicksal teilt? Im besten
Lady Vespasia streckte ihre Hand über den Tisch aus und berührte ganz sacht Charlottes Fingerspitzen. »Dasselbe wie du, meine Liebe. Nur bedeutet das nicht zwangsläufig, dass deine Entscheidung klug ist. Es ist einfach die einzige, mit der du leben kannst.«
Das Mädchen klopfte und teilte mit, dass im Frühstückszimmer gedeckt sei. Zierliche Mahagonimöbel aus dem 18. Jahrhundert schimmerten dunkel vor goldgelb tapezierten Wänden, so dass es aussah, als äßen sie im Licht des Sonnenuntergangs, obwohl die Vorhänge auch hier zugezogen waren und das einzige Licht von den Gaskandelabern an den Wänden kam.
Erst als sie in den Salon zurückgekehrt waren und sicher sein durften, dass man sie nicht stören würde, wandten sie sich erneut ihrer ernsthaften Unterhaltung zu.
»Du darfst in Irland keinen Augenblick vergessen, wo du bist«, mahnte Lady Vespasia. »Nimm vor allem nicht an, dass es dort zugeht wie hier in England. Die Leute da sind außerstande, die Vergangenheit auch nur einen Augenblick lang zu vergessen. Genieße, was sich dir bietet, aber sei ständig auf der Hut. Man sagt, wer mit dem Teufel essen will, muss einen langen Löffel haben. Das gilt sinngemäß auch dort: Um mit den Iren zurechtzukommen, muss man all seine geistigen Kräfte zusammennehmen. Die bringen es fertig und seifen jeden ein, der nicht aufpasst.«
»Ich werde nicht vergessen, warum ich dort bin«, versprach Charlotte.
»Und auch nicht, dass Victor Irland sehr gut kennt und die Iren ihn kennen?«, fügte Lady Vespasia hinzu. »Du solltest weder seine Intelligenz noch seine Verletzlichkeit unterschätzen. Übrigens hast du mir noch gar nicht gesagt, auf welche Weise du das Unternehmen so durchführen willst, dass sein guter Ruf nicht noch mehr beschädigt und deiner nicht zugrunde gerichtet wird. Ich nehme jedenfalls nicht an, dass dich deine Angst und dein Widerwille gegen das ihm angetane Unrecht in dieser Hinsicht blind gemacht haben?« In ihrer Stimme lag keinerlei Kritik, sondern lediglich Sorge.
Charlotte spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht stieg. »Selbstverständlich habe ich daran gedacht. Eine Gesellschafterin kann ich nicht mitnehmen, denn ich habe keine, und ohnehin würde mir das Geld für ihre Reisekosten fehlen, sofern ich eine hätte. Ich werde mich als Mr Narraways Schwester ausgeben, genauer gesagt, als seine Halbschwester. Damit dürfte die Sache ja wohl hinreichend schicklich sein.«