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Ein leichtes Lächeln umspielte Lady Vespasias Mundwinkel. »Dann solltest du aber besser aufhören, ihn als ›Mr Narraway‹ anzureden, und seinen Vornamen benutzen, wenn du kein Aufsehen erregen willst.« Sie zögerte. »Vielleicht tust du das ja bereits?«

Charlotte sah ihr in die silbergrauen Augen, ohne sich dazu zu äußern.

Früh am nächsten Morgen kam Narraway in einer Droschke. Als Charlotte die Tür öffnete, zögerte er nur einen winzigen Augenblick, fragte aber nicht, ob sie es sich anders überlegt habe. Vielleicht wollte er ihr keine Gelegenheit geben, in ihrem Entschluss wankend zu werden. Sein Gesicht war düster, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als habe er schon lange nicht mehr richtig geschlafen. Nachdem er den Droschkenkutscher aufgefordert hatte, ihr Gepäck aufzuladen,

»Nein, vielen Dank, das habe ich bereits getan«, gab sie zurück. »Außerdem sind mir lange Abschiede zuwider. Ich bin zum Aufbruch bereit.«

Er nickte und folgte ihr über den schmalen Weg, half ihr in die Droschke und ging dann hinten um diese herum, um ebenfalls darin Platz zu nehmen. Offensichtlich hatte er dem Kutscher das Fahrtziel schon genannt.

Charlotte hatte sich bereits entschieden, ihm nicht mitzuteilen, dass sie bei Lady Vespasia gewesen war; auch sagte sie kein Wort über Mrs Watermans Verdächtigungen. Das wäre nur peinlich gewesen, so, als sehe auch sie selbst in der Reise etwas, was über deren eigentlichen Zweck hinausging. Der bloße Gedanke ließ ihr die Röte ins Gesicht steigen.

»Vielleicht möchten Sie mir etwas über Dublin erzählen«, schlug sie vor. »Ich war noch nie dort, und mir ist bewusst, dass ich so gut wie nichts darüber weiß, außer, dass es sich um die Hauptstadt Irlands handelt.«

Aus irgendeinem Grund schien ihn das zu belustigen.

»Unterwegs wird genug Zeit dafür sein, denn obwohl wir den Schnellzug benutzen, haben wir nicht nur eine lange Fahrt bis zur Küste, sondern auch noch die mit der Fähre vor uns. Zum Glück ist die Wettervorhersage günstig. Ich hoffe nur, dass sie stimmt, denn wenn die Irische See rau ist, kann die Überfahrt außerordentlich unangenehm werden. Ich werde also unterwegs reichlich Gelegenheit haben, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß, angefangen mit der Zeit von 7500 vor Christi Geburt bis heute.«

Es verblüffte sie zu hören, dass die Stadt so alt sein sollte, doch dachte sie nicht daran, ihm zu zeigen, dass es ihm so leicht gelungen war, sie zu beeindrucken. So sagte sie lediglich: »Ach, tatsächlich? Und liegt das daran, dass unsere Reise

»Genau genommen gibt es zwischen der Zeit um 7500 und dem Auftauchen der Kelten dort im Jahre 700 vor Christi Geburt eine große Lücke«, gab er mit einem Lächeln zurück. »Danach ist ebenfalls nicht sonderlich viel passiert, bis ein gewisser Patricius im Jahre 432 nach Christi Geburt dorthin gelangt ist, Apostel und Patron der Iren, den sie gewöhnlich St. Patrick nennen.«

»Wir können also acht Jahrtausende kommentarlos überspringen«, folgerte sie. »Danach gibt es aber doch sicherlich genauere Einzelheiten?«

»Wie wäre es mit der Errichtung der St. Patrick geweihten Kathedrale im Jahre 1192?«, schlug er vor. »Es sei denn, Sie wollen etwas über die Wikinger wissen – da müsste ich selbst erst nachlesen. Auf jeden Fall waren sie keine Iren und zählen deshalb nicht.«

»Sind Sie Ire, Mr Narraway?«, fragte sie plötzlich. Vielleicht war das aufdringlich von ihr, und solange er Pitts Vorgesetzter war, hätte sie eine solche Frage nie zu stellen gewagt, doch jetzt sprachen sie miteinander beinah von Gleich zu Gleich, und vielleicht konnte es für sie wichtig sein, es zu wissen. Mit seinen dunklen Augen, den dunklen Haaren und der Haut, die nicht annähernd so hell war die anderer Briten, konnte er ohne weiteres aus Irland stammen.

Er zuckte leicht zusammen. »Wie förmlich Sie sind – Sie klingen fast wie Ihre Mutter. Ich bin ebenso englisch wie Sie, wenn man von einer irischen Urgroßmutter absieht. Warum fragen Sie?«

»Weil Sie sich in der Geschichte des Landes so gut auskennen«, gab sie zurück. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn ihre Frage hatte mehr damit zu tun, dass sie feststellen wollte, wem seine Loyalität galt. Außerdem konnte das womöglich

»Solches Wissen gehört zu meinen Aufgaben«, sagte er ruhig. »Besser gesagt, es gehörte dazu. Möchten Sie etwas über die Fehde hören, die den König von Leinster veranlasste, Heinrich II. von England zu bitten, er möge ein Heer zu seiner Unterstützung entsenden?«

»Ist das interessant?«

»An der Spitze dieses Heeres stand der als Strongbow bekannte Richard de Clare. Er hat sich mit der Erbtochter des irischen Provinzialkönigs vermählt und wurde im Jahre 1171 selbst König, womit die Anglo-Normannen die Herrschaft über Irland in die Hand bekamen. Im Jahre 1205 haben sie damit begonnen, die Burg von Dublin zu bauen. ›Silken‹ Thomas ist im Jahre 1534 an die Spitze einer Revolte gegen Heinrich VIII. getreten und in diesem Kampf unterlegen. Sehen Sie allmählich ein Muster?«

»Selbstverständlich. Verbrennen die Iren also heutzutage alljährlich eine Strohpuppe, die den König von Leinster darstellen soll?«

Er lachte kurz und scharf. »Davon habe ich nie etwas gesehen, aber der Gedanke ist nicht schlecht. So, wir sind am Bahnhof. Ich werde mich um einen Gepäckträger kümmern. Wir unterhalten uns im Zug weiter.«

Noch während er das sagte, hielt die Droschke an, und Narraway sprang leichtfüßig hinaus. Mit seiner gebieterischen Haltung erregte er binnen Sekunden die Aufmerksamkeit eines Gepäckträgers, der das Gepäck auf seinen Karren lud. Er entlohnte den Droschkenkutscher und trat dann mit Charlotte in die riesige Halle des Bahnhofs von Paddington, von wo aus die Züge der Gesellschaft Great Western Rail nach Holyhead in Nordwales fuhren. Das Dach, das sich mit seinen

Narraway nahm Charlottes Arm. Es war ein sonderbares Gefühl, und sie wollte sich im ersten Augenblick dagegen sträuben, doch dann fiel ihr ein, wie töricht das wäre. Falls sie sich in der ungeheuren Menschenmenge aus den Augen verlören, würden sie einander möglicherweise erst nach Abfahrt des Zuges wieder finden. Er hatte die Fahrkarten und wusste sicherlich, zu welchem Bahnsteig sie mussten.

Sie kamen an Gruppen von Menschen vorüber, die Wiedersehen feierten oder Abschied voneinander nahmen. Immer wieder übertönten zischender Dampf und sich mit lautem Knall schließende Waggontüren alles andere. Auf den schrillen Pfiff eines Schaffners hin setzte sich eine der riesigen Lokomotiven in Bewegung und verließ den Bahnhof.

Erst nachdem Narraway und Charlotte ihr Abteil gefunden und darin Platz genommen hatten, setzten sie ihr Gespräch fort. Mit seinem höflichen und sogar zuvorkommenden Verhalten ihr gegenüber konnte er sie nicht über seine innere Anspannung hinwegtäuschen. So gut wie nie hielt er seine Hände ruhig, und immer wieder richtete er seine Blicke hierhin und dorthin, als wolle er sich die Gesichter der Menschen um ihn herum einprägen.

Charlotte sah es als ihre Aufgabe an, die lange Fahrt nach Holyhead so angenehm wie möglich zu gestalten, doch wollte sie zugleich von ihm erfahren, was genau er von ihr erwartete.

Sie nahm an, dass sie ziemlich steif wirkte, wie sie so mit im Schoß gefalteten Händen in vorbildlich aufrechter Haltung auf der ziemlich unbequemen Bank im Abteil saß. Zwar gefiel

»Danke für Ihre Ausführungen über die frühe irische Geschichte«, begann sie und kam sich dabei unbeholfen und ungeschickt vor. »Aber ich muss mehr über die Angelegenheit wissen, der wir nachspüren wollen, weil ich sonst bestimmt Wichtiges nicht erkenne, wenn ich etwas darüber höre. Ich kann mir unmöglich alles merken, was gesagt wird, um es Ihnen dann Wort für Wort zu berichten.«

»Selbstverständlich nicht.« Ganz offensichtlich war er bemüht, ein ernstes Gesicht zu machen, was ihm aber nicht ganz gelang. »Ich werde Ihnen so viel sagen, wie ich kann. Sie werden aber verstehen, dass es da nach wie vor den einen oder anderen heiklen Punkt gibt … ich meine, politisch gesehen.«