Sie sah ihn aufmerksam an und begriff, dass das, worauf er damit anspielte, auch für ihn persönlich schmerzlich war. Er erkannte, dass sie das gemerkt hatte, und lächelte. Der Spott, der darin lag, galt in erster Linie ihm selbst.
»Vielleicht könnten Sie mir etwas über die politische Lage im Lande sagen«, regte sie an. »Zumindest, soweit sie allgemein bekannt ist – jedenfalls den Menschen, die sich dafür interessieren«, fügte sie hinzu. Jetzt war die Reihe an ihr, sich ein wenig selbst zu verspotten. »Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich mich zu jener Zeit mehr mit Kleidern und Gesellschaftsklatsch als mit Politik beschäftigt habe.« Damals war sie seiner Schätzung nach um die fünfzehn Jahre alt gewesen. »Und natürlich mit der Frage, wen ich wohl eines Tages heiraten würde.«
»Verständlich. Ein Thema, das die meisten von uns von Zeit zu Zeit beschäftigt.« Er nickte. »Es genügt, wenn Sie über den politischen Hintergrund wissen, dass die Iren, wie bereits seit langer Zeit, unüberhörbar nach Selbstbestimmung verlangen. Verschiedene britische Premierminister haben schon früher versucht, sie im Unterhaus durchzusetzen, was einigen von ihnen großen Ärger bereitet und andere das Amt gekostet hat. Hier geht es um die Zeit des aufsehenerregenden Aufstiegs von Charles Stewart Parnell. Dieser Mann hat sich im Jahre 1877 an die Spitze der Partei gestellt, die sich für die Selbstbestimmung der Iren einsetzte.«
»Den Namen habe ich schon einmal gehört.«
»Kann ich mir denken, wahrscheinlich wegen seines skandalösen Verhältnisses zu Katie O’Shea, das ihm letzten Endes politisch gesehen den Hals gebrochen hat. Aber das war sehr viel später.«
»Bestand zwischen Parnell und den Ereignissen um die Familie O’Neil irgendein Zusammenhang?«
»In keiner Weise, jedenfalls nicht unmittelbar. Aber die Hoffnung, die das Auftreten eines neuen leidenschaftlichen Anführers erweckt, lag in der Luft. Endlich, so nahm man allgemein an, würde Irland unabhängig, und das machte alles anders als zuvor.« Er richtete den Blick aus dem Fenster, durch
»Und das mussten wir verhindern?«, fragte sie.
»Ich denke, dass es darauf hinauslief, ja. Uns erschien es notwendig, um den Frieden zu bewahren. Die Dinge ändern sich fortwährend, und da muss man darauf achten, dass man nicht die Kontrolle über die Art verliert, wie sie sich entwickeln, damit sie nicht aus dem Ruder laufen. Es hat keinen Sinn, zahllose Menschenleben zu opfern, nur um die eine Tyrannei gegen eine andere einzutauschen.«
»Mir gegenüber brauchen Sie das nicht zu rechtfertigen«, teilte sie ihm mit. »Mir sind diese Gedanken durchaus vertraut. Ich würde nur gern etwas mehr über die Familie O’Neil erfahren, damit ich verstehen kann, warum einer von ihnen Sie persönlich so sehr hasst, dass Sie noch zwanzig Jahre später annehmen, er habe dafür gesorgt, dass man Ihnen ein Verbrechen anlastet, das Sie nicht begangen haben. Was für eine Art Mensch war er? Warum hat er damit so lange gewartet? «
Narraway wandte sich ihr erneut zu. Er sprach zögernd. »Cormac O’Neil? Er hat gut ausgesehen, war ein sehr kräftiger Mann, der genauso leicht lachte wie ärgerlich wurde, doch seine Wut blieb gewöhnlich an der Oberfläche und war rasch vergessen. Ein Mann, der ausgesprochen treu zu Irland und zu seiner Familie hielt und seinem Bruder Sean sehr nahestand.« Er lächelte. »Die beiden haben sich fortwährend wie die Besenbinder in den Haaren gelegen. Aber wehe, ein Außenstehender trat dazwischen – dann haben sie sich gemeinsam auf ihn gestürzt, dass die Fetzen flogen.«
»Wie alt war er damals?«, fragte sie und versuchte sich den Mann vorzustellen.
»An die vierzig«, gab er zurück.
Sie fragte sich, ob er das aus den Akten hatte oder mit Cormac O’Neil gut genug bekannt gewesen war, dass sie solche Dinge voneinander wussten. Sie meinte, tiefreichende und vielschichtige persönliche Empfindungen an Narraway wahrzunehmen, und gewann immer mehr den Eindruck, dass hinter dem Ganzen weit mehr steckte als ein Einsatz des Sicherheitsdienstes. Sicherlich würde er ihr immer nur sagen, was unumgänglich war.
Sie musste sich daran erinnern, dass er alles verloren hatte, was ihm etwas bedeutete, nicht auf materieller Ebene – in diesem Punkt stimmte sie Lady Vespasias Ansicht zu, dass ihm derlei nichts bedeutete. Aber er hatte sein Ziel im Leben verloren, das er mit all seiner Leidenschaft und Energie verfolgt und das geradezu sein Wesen ausgemacht hatte. Am meisten hatte ihn wohl verletzt, dass man ihn an dieser Stelle so tief getroffen hatte.
»Stammen die O’Neils aus einer alten Familie?«, fuhr sie fort. »Wo haben die Leute gelebt und wie?«
Wieder sah er aus dem Fenster zur Sonne hin. »Cormac hatte Landbesitz südlich von Dublin – in Slane. Ein interessanter Ort. Ob die Familie alt war? Gehen wir nicht alle auf Adam zurück?«
Ihr war klar, dass er damit ihrer Frage auswich.
»Er scheint uns sein Erbe aber nicht allen zu gleichen Teilen hinterlassen zu haben«, gab sie zurück.
»Seine finanziellen Mittel erlaubten es ihm, sich mehr oder weniger auf die Verwaltung seines Vermögens zu beschränken. Er und Sean besaßen gemeinsam auch eine Brauerei. Sicher wissen Sie, dass das Wasser des Flusses Liffey für seine besondere Weichheit bekannt ist. Bier lässt sich überall auf der Welt brauen, doch hat keins den ganz besonderen Geschmack des mit Liffey-Wasser gebrauten. Aber Sie wollten wissen, wie die beiden waren.«
»Ja. Müsste ich den Mann nicht für Sie aufspüren? Wenn er Sie so sehr hasst, wie Sie annehmen, wird er Ihnen doch bestimmt nichts sagen, was Ihnen weiterhilft.«
Sein Gesicht verfinsterte sich. »Für den Fall, dass tatsächlich Cormac dahintersteckt, hat er sich die Sache sehr sorgfältig ausgedacht, und er muss über Mulhare und die ganze Operation rundum informiert gewesen sein: die Zusicherung des Geldes und die Höhe des Betrags, den Grund dafür, dass es auf so komplizierte Weise ausbezahlt wurde, und wahrscheinlich auch darüber, dass es Mulhare das Leben kosten würde, wenn es nicht wie vereinbart an diesen weitergegeben wurde.«
Sie hatte nicht die Absicht, noch einmal zu sagen, wie sehr sie mit ihm fühlte und wie verhasst ihr die ganze Geschichte war. Es gab dem, was sie bereits gesagt hatte, nichts hinzuzufügen. »Und er müsste auch eine Möglichkeit gehabt haben, dafür zu sorgen, dass ihn jemand in Lisson Grove dabei unterstützte. «
Er zuckte zusammen. »Ja. Darüber habe ich viel nachgedacht. « Jetzt war sein Gesicht voll Düsterkeit. »Ich habe alle Stücke des Puzzles zusammengesetzt, die ich kenne: Mulhares Verbindungen, was ich unternommen habe, um unter allen Umständen zu verhindern, dass die wahre Herkunft des Geldes bekannt werden konnte, alle Freunde und Feinde, die ich mir im Laufe der Zeit dort gemacht habe, wo das passiert ist. Alles weist auf O’Neil hin.«
»Aber warum sollte jemand in Lisson Grove bereit gewesen sein, den Mann bei seiner Handlungsweise zu unterstützen?«, fragte sie. Ihr war klar, dass diese Frage ebenso schmerzhaft war wie das Herausholen winziger Steinchen aus einem aufgeschürften Knie oder Ellbogen, nur dass sie weit tiefer reichte als eine solche Wunde. Unwillkürlich trat ihr das Bild vor Augen, wie Daniel mit schmutzigen und blutigen Beinen auf
»Dafür gibt es viele Gründe«, gab Narraway zurück. »Eine Arbeit wie die meine kann niemand erledigen, ohne sich Feinde zu machen. Man erfährt Dinge über andere Menschen, die man weit lieber nicht wüsste. Aber das ist ein Luxus, auf den man in dem Augenblick verzichtet, da man die Verantwortung übernimmt.«
»Das ist mir bekannt«, erwiderte sie ihm.
Seine Augen wanderten ein wenig hin und her. »Tatsächlich? Woher wissen Sie das, Charlotte?«
Sie erkannte die Falle und vermied sie. »Nicht von Thomas. Seit er beim Sicherheitsdienst ist, spricht er nicht mehr über seine Arbeit. Außerdem nehme ich an, dass man so komplizierte Dinge einem Außenstehenden nicht erklären kann.«