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Er sah sie jetzt aufmerksam an. Seine Augen waren so dunkel, dass es ihr schwerfiel, darin irgendeinen Ausdruck zu erkennen. Die Linien seines Gesichts zeigten alle Gefühle, die er im Laufe der Jahre empfunden hatte: Besorgnis, Freude und Kummer.

»Meine älteste Schwester ist vor vielen Jahren ermordet worden, wie eine ganze Reihe anderer junger Frauen«, erklärte sie. »Niemand wusste, wer dahintersteckte. Diese Mordserie hat im ganzen Land Aufsehen erregt, und wir alle haben uns über den wahren Hintergrund getäuscht. Aber im Laufe der Nachforschungen hat jeder von uns eine Menge Dinge über sich und die jeweils anderen erfahren, von denen wir besser nie Kenntnis erlangt hätten. So etwas kann man nicht vergessen.

Sie sah ihn an und erkannte neben der Überraschung auf seinen Zügen auch eine Freundlichkeit, die sie verlegen machte. Die einzige Möglichkeit, das Unbehagen zu überspielen, bestand darin weiterzureden.

»Später, nachdem ich Thomas geheiratet hatte, habe ich mich an der Aufklärung einer ganzen Reihe seiner Fälle beteiligt, vor allem, wenn es um Angehörige der höheren Schichten ging. Ich hatte den Vorteil, ihnen von Gleich zu Gleich gegenübertreten und dabei Dinge in Erfahrung bringen zu können, die er nie im Leben herausbekommen hätte. Man hört ganz nebenbei, was getratscht wird – der Klatsch macht ja einen großen Teil des gesellschaftlichen Lebens aus. Wer etwas erfahren möchte und dabei klug vorgeht, das, was einer sagt, mit dem vergleicht, was andere gesagt haben, unauffällig Fragen stellt und Antworten auswertet, erhält auf jeden Fall Kenntnis von so manch Betrüblichem aus dem Privatleben anderer, was ihn nicht im Geringsten angeht, und er bekommt auch mit, wo diese Menschen verletzlich sind. Mitgefühl wie Enttäuschung kann weit schmerzhafter sein, als man es sich vorstellt, bis man es am eigenen Leibe erfahren hat.«

Er nickte kaum merklich. Ihm war klar, dass es für ihn keinen Grund gab, etwas dazu zu sagen.

Eine Weile saßen sie schweigend da. Das rhythmische Rattern der Räder war angenehm, beinahe einlullend. Die letzten Tage waren schwierig und anstrengend gewesen, und als sie merkte, dass sie einzunicken begann, fuhr sie mit einem Ruck hoch. Hoffentlich hatte sie nicht mit halb offenem Mund in ihrem Sitz gehangen!

Nach wie vor hatte sie nicht die geringste Vorstellung davon, auf welche Weise sie Narraway helfen konnte.

»Wissen Sie, wer Sie in Lisson Grove verraten hat?«, fragte sie.

Er beantwortete ihre Frage umgehend, als habe er geradezu darauf gewartet.

»Nein«, gab er zu. »Ich habe mehrere Möglichkeiten erwogen. Bei Licht besehen, sind die Einzigen, von denen ich sicher bin, dass sie es nicht gewesen sein können, Ihr Mann und ein gewisser Stoker. Während ich darüber nachgedacht habe, ist mir überhaupt erst aufgegangen, wie stümperhaft ich mich verhalten haben muss, dass mir kein Verdacht gekommen ist. Ich habe meinen Blick immer nur nach außen gerichtet, auf die Feinde, von denen ich wusste. In unserem Beruf hätte ich aber auch hinter mich blicken müssen.«

Sie widersprach nicht. Jeder Versuch, ihn zu trösten, wäre nur allzu durchsichtig gewesen und möglicherweise auch als herablassend empfunden worden.

»Das heißt, wir dürfen gegenwärtig im Sicherheitsdienst niemandem trauen, mit Ausnahme dieses Mannes namens Stoker«, folgerte sie. »In dem Fall wird uns wohl in der Tat nichts anderes übrigbleiben, als uns auf Irland zu konzentrieren. Warum hasst Cormac O’Neil Sie eigentlich so sehr? Wenn ich etwas in Erfahrung bringen soll, muss ich unbedingt die Hintergründe kennen.«

Diesmal wich er ihrem Blick nicht aus, doch sie hörte das Zögern in seiner Stimme. Es war ganz offensichtlich, dass er ihr die gewünschte Auskunft nur gab, weil ihm keine andere Wahl blieb. »Ich hatte erfahren, dass er einen Aufstand plante, und habe diesen verhindert, und zwar, indem ich seine Schwägerin, Seans Frau, auf meine Seite gezogen und die Angaben, die sie mir gemacht hat, genutzt habe, um seine Leute festnehmen zu lassen, woraufhin sie zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.«

»Ich verstehe.«

»Nein, Sie verstehen nicht«, sagte er rasch mit gepresster Stimme. »Ich habe auch nicht die Absicht, Ihnen mehr zu sagen. Jedenfalls hat Sean seine Frau deswegen umgebracht und ist für diese Tat zum Strang verurteilt worden. Das kann Cormac mir nicht vergeben. Wenn es einfach ein Kampf gewesen wäre, hätte er den Sieg unserer Seite als Kriegsglück angesehen. Damals hätte er mich dafür vielleicht gehasst, aber inzwischen wäre das längst vergessen, wie das so geht, wenn Schlachten lange genug zurückliegen. Aber Sean und Kate sind immer noch tot. Ihr haftet nach wie vor der Makel einer Verräterin und ihm der eines Mörders an. Ich weiß nicht, warum O’Neil so lange gewartet hat – das ist das Einzige, was ich an der ganzen Geschichte nicht verstehe.«

»Vielleicht spielt es auch keine Rolle«, sagte sie düster. Es war eine tragische und auch äußerst hässliche Geschichte, und sie war überzeugt, dass er sie ihr nur in ganz groben Zügen berichtet hatte, möglicherweise, um Geheimnisse des Sicherheitsdienstes zu wahren. Doch eigentlich war sie überzeugt, dass er sich für seinen Anteil an diesen Vorfällen schämte.

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte sie.

»Ich denke, dass ich nach wie vor Freunde in Dublin habe«, gab er zur Antwort. »Da ich keine Möglichkeit habe, selbst an Cormac heranzutreten, brauche ich jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Es muss ein Mensch sein, der völlig unbeteiligt wirkt und in keiner Weise mit mir in Verbindung zu stehen scheint. Ich kann mich nicht einmal mit Ihnen irgendwo zeigen, sonst würde man Sie sofort mit Argwohn betrachten. Beschaffen Sie mir die Fakten; ich kann sie dann zusammensetzen. « Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, unterließ es dann aber.

»Haben Sie Sorge, dass ich unter Umständen nicht erkennen kann, was wichtig ist?«, fragte sie. »Oder dass ich es mir nicht merke und Ihnen falsch berichte?«

»Nein. Mir ist durchaus klar, dass Sie zu beidem imstande sind.«

»Wirklich?« Sie war überrascht.

Er lächelte flüchtig. »Sie haben mir gesagt, dass Sie Pitt geholfen haben, als er bei der Polizei war, als ob Sie der Ansicht wären, dass ich das nicht wüsste.«

»Ich hatte den Eindruck, dass Ihnen die Sache mit meiner Schwester Sarah nicht bekannt war«, gab sie zurück. »Oder war es mehr Takt als Wahrheitsliebe, dass Sie nichts dazu gesagt haben?«

In seine Augen trat ein gekränkter Blick, der sogleich wieder verschwand. »Es war die Wahrheit. Aber vielleicht habe ich diesen Kommentar verdient. Das meiste über Sie habe ich von Vespasia erfahren. Sie hat Sarah mit keiner Silbe erwähnt, vielleicht aus Feingefühl. Und ich brauchte das ja auch nicht zu wissen.«

»Aber das andere mussten Sie wissen?«, fragte sie ungläubig.

»Selbstverständlich. Sie gehören zu Pitts Leben. Ich musste genau wissen, wie weit ich mich auf Sie verlassen konnte. Allerdings kann ich Ihnen angesichts meiner gegenwärtigen Lage keine Vorwürfe machen, wenn Sie meine diesbezüglichen Fähigkeiten anzweifeln.«

»Das klingt wie Selbstmitleid«, sagte sie mit Schärfe in der Stimme. »Ich habe keine Kritik an Ihnen geübt, und das weder, weil sich das so gehört, noch aus Mitgefühl. Wir können uns keine dieser beiden Haltungen leisten, sofern sie die Wahrheit verhüllen. Wir sind darauf angewiesen, einander bedingungslos zu trauen. Das Vergehen besteht im Verrat, nicht im Verratenwerden.«

»Wirklich gut, dass Sie keinen Mann aus den höheren Kreisen geheiratet haben«, gab er zurück. »Sie hätten das nicht überlebt – vielleicht aber hätte es auch die feine Gesellschaft nicht

Sie war nicht sicher, ob er über sie spottete, sich verteidigte oder beides.

»Sie haben also meine Unterstützung akzeptiert, weil Sie überzeugt sind, dass ich imstande bin zu tun, was Sie von mir erwarten«, schloss sie.