Am Ende von Ropemaker’s Field ging es nach rechts in die Narrow Street. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Ufer. Vom Wasser wehte eine kräftige Brise herüber, die nach Salz und Schlamm roch. Es herrschte Ebbe. Ein halbes Dutzend Möwen kreisten träge über einigen Lastkähnen.
Wrexham war immer noch vor ihnen. Allmählich wurden seine Bewegungen langsamer, seine Kräfte schienen nachzulassen. Er lief am Eingang zum Limehouse Cut vorüber, ganz offensichtlich waren die Kidney Stairs sein Ziel, an deren Fuß unter Umständen ein Fährboot abfahrbereit lag. Falls nicht, würde er das sehen, bevor er hinablief, und einfach zu einer der beiden nächsten steinernen Treppen rennen, die zum Fluss hinabführten, bevor sich die Straße wieder in Richtung Broad Street von ihm entfernte. Außer diesen dreien gab es noch weitere Treppen an den Shadwell Docks. An jeder von ihnen konnte er seine Verfolger ohne weiteres abschütteln, falls es ihm gelang, in ein abfahrbereites Boot zu springen.
Gower wies auf den Fluss. »Zur Treppe!«, rief er und rang im nächsten Augenblick nach Luft. Er machte eine weit ausholende Armbewegung, dann lief er weiter, einige Schritte vor Pitt.
Pitt sah einen Fährmann, der sein Boot dem Ufer entgegenruderte. Er würde die Treppe kurz nach Wrexhams Eintreffen dort erreichen. Damit wäre es Pitt und Gower möglich,
Wrexham erreichte die Treppe und eilte sie hinab, wobei er verschwand, als sei er in ein Loch gefallen. Siegesgewissheit erfüllte Pitt. Das Fährboot war noch knapp zwanzig Meter von der Treppe entfernt. Gower stieß einen Triumphschrei aus und riss jubelnd eine Hand hoch.
Als sie das obere Ende der Treppe erreichten, sahen sie, wie sich ein Fährboot aus dem Schatten der Ufermauer löste. Wrexham saß im Heck. Sie waren einander so nahe, dass sie das höhnische Lächeln auf seinen Zügen sehen konnten, als er sich halb zu ihnen umwandte. Dann drehte er sich wieder dem Fährmann zu und wies ans andere Ufer.
Pitt stürmte die Treppe so eilig hinab, dass er auf den nassen Steinen ausglitt und das Gleichgewicht nur mit Mühe halten konnte. Er winkte dem anderen Fährboot zu, das sie hatten näher kommen sehen. »Hierher! Schnell!«, rief er.
Auch Gower rief. Seine Stimme klang verzweifelt.
Der Fährmann beschleunigte das Tempo und legte sich mit voller Kraft in die Riemen, so dass er schon nach wenigen Sekunden anlegen konnte.
»Steigen Sie ein«, sagte er munter. »Wohin?«
»Hinter dem Boot da her!«, keuchte Gower, der fast an seinem eigenen Atem erstickte, und wies auf das andere Boot. »Sie bekommen zwei Shilling zusätzlich, wenn Sie es einholen, bevor der Mann da drin einen Fuß auf die Treppe am Horseferry-Anleger setzen kann.«
Pitt sprang hinter ihm ins Boot und setzte sich sofort hin, damit der Fährmann losrudern konnte. »Er will nicht zum Horseferry-Anleger«, sagte er, »sondern quer über den Fluss. Sehen Sie nur!«
»Etwa zum Lavender Dock?«, fragte Gower mit finsterer Miene und setzte sich neben Pitt. »Was zum Kuckuck kann er da wollen?«
»Das ist der kürzeste Weg ans andere Ufer«, gab Pitt zur Antwort. »Von da läuft er zur Rotherhithe Street und weiter.«
»Wohin?«
»Wahrscheinlich zum nächsten Bahnhof. Oder er mischt sich unter die Leute, dann ist er uns ebenfalls entkommen.«
Der Fährmann legte sich ins Zeug und verringerte allmählich den Abstand zu dem Boot vor ihnen.
Sobald sie die vor Anker liegenden Schiffe hinter sich gelassen hatten, war der Weg vor ihnen trotz regen Verkehrs frei von größeren Hindernissen. Erst etwa fünfzig Meter weiter flussabwärts näherte sich ein Schleppzug, der gegen den Ebbstrom ankämpfte. Der Wind wurde kälter. Unwillkürlich kauerte sich Pitt zusammen und schlug den Kragen hoch. Es kam ihm vor, als seien Stunden vergangen, seit er und Gower auf dem Hof der Ziegelei gesehen hatten, wie sich Wrexham über Wests blutbedeckte Leiche beugte, doch vermutlich war es kaum mehr als eineinhalb Stunden her. Durch Wests Tod waren sie um ihre Informationen über die Hintergründe des Anschlags, die diesem bekannt gewesen waren, gekommen.
Pitt dachte daran, wie er bei seiner letzten Besprechung mit Narraway in dessen Büro gesessen hatte. Im Licht der strahlend durch das Fenster auf die Stapel von Büchern und Papieren fallenden Sonne war zu sehen gewesen, dass sich Narraways nahezu schwarzes Haar stellenweise allmählich grau färbte. Mit großem Ernst hatte er erläutert, wie bedrohlich die Lage sei, und auf das allenthalben zu spürende Bestreben hingewiesen, Europas Imperialismus zu reformieren, erforderlichenfalls mit Gewalt. Dabei gehe es längst nicht mehr nur um einen Sprengstoffanschlag hier und da oder gelegentlichen Mord, nein, man munkele von Plänen, die eine oder andere Regierung
»Es besteht gar kein Zweifel, dass sich so manches ändern muss«, hatte Narraway nicht ohne Bitterkeit hinzugefügt. »Nur ein Dummkopf würde bestreiten, dass es Ungerechtigkeiten auf der Welt gibt. Aber was diese Leute planen, läuft auf Anarchie hinaus. Gott allein weiß, wie weit diese Seuche schon um sich gegriffen hat. Unbestreitbar hat sie Frankreich, Deutschland und Italien erreicht, und wie man hört, zeigen sich inzwischen auch hier bei uns in England erste Hinweise darauf. Halb Europa hat 1848 verrücktgespielt, doch war alles schon ein paar Jahre später vorbei. Man hat die Barrikaden niedergerissen, die Reformen rückgängig gemacht, und schon bald saßen die früheren Tyrannen wieder so fest im Sattel wie zuvor, und es ging weiter, als sei nie etwas geschehen.«
Pitt hatte in den nahezu schwarzen Augen seines Vorgesetzten eine so tiefe Trauer erkannt, wie er sie bei diesem Mann nie für möglich gehalten hätte. Verblüfft hatte er begriffen, dass Narraway das Scheitern dieser Träume bedauerte, womöglich noch mehr als den Tod der von Leidenschaft und Idealismus angetriebenen Männer und Frauen, die im guten Glauben ihr Leben geopfert hatten, um sie zu verwirklichen.
Dann jedoch hatte Narraway den Kopf geschüttelt, als wolle er sich selbst zur Ordnung rufen. »Aber heute haben wir es mit ganz anderen Leuten zu tun, Pitt. Sicher werden sie auf die Dauer Erfolg haben, allerdings nicht, wenn sie auf Gewalt setzen. So gehen wir hier in England nicht vor. Bei uns ergeben sich Veränderungen mit der Zeit, Schritt für Schritt. Wir werden dahin gelangen, aber nicht mit Feuer und Schwert.«
Der Wind ließ nach, das Wasser glättete sich.
Es war nicht mehr weit bis zum Südufer der Themse. Sie mussten eine Entscheidung treffen. Gower sah ihn erwartungsvoll an.
Das Boot, in dem Wrexham saß, hatte beinahe das Lavender Dock erreicht.
»Bestimmt will der irgendwo hin«, sagte Gower mit Nachdruck. »Sollen wir ihn uns jetzt packen, Sir – oder abwarten und zusehen, wohin er uns führt? Wenn wir jetzt zuschlagen, erfahren wir voraussichtlich nicht, wer hinter der Sache steckt. Der redet bestimmt nicht – wozu sollte er? Wir waren praktisch Zeugen, wie er West umgebracht hat, und ihm ist klar, dass er dafür hängen wird.« Er wartete mit gerunzelten Brauen.
»Glauben Sie, dass es uns gelingt, ihn nicht aus den Augen zu verlieren?«, fragte Pitt.
»Unbedingt«, sagte Gower, ohne zu zögern.
»Schön.« Pitt hatte seine Entscheidung getroffen. »Dann halten wir uns erst einmal zurück. Wenn es nötig ist, trennen wir uns, um ihm auf den Fersen zu bleiben.«
Sie ließen ihr Boot warten, bis Wrexham die schmale Treppe zum Ufer emporgestiegen und beinahe verschwunden war. Dann folgten sie ihm, wobei sie darauf achteten, sich in einer gewissen Entfernung zu halten. Manchmal gingen sie gemeinsam, öfter aber ließen sie so viel Abstand zwischen sich, dass ein Außenstehender sie für einander Unbekannte gehalten hätte, die zufällig in dieselbe Richtung gingen, ohne etwas miteinander zu tun zu haben.
Wrexham schien inzwischen so sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass er sich kein einziges Mal umsah. Vielleicht nahm er an, dass es ihm gelungen war, seine Verfolger abzuschütteln. Angesichts des dichten Verkehrs auf der Themse war ihm wohl nicht aufgefallen, dass gleich nach seinem Boot ein weiteres den Fluss überquert hatte. Sie konnten von Glück sagen, dass sie ihn nicht aus den Augen verloren hatten.