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»Aber nein. Ich habe es getan, weil Sie so darauf bestanden haben. Ganz davon abgesehen hatte ich ohnehin keine Wahl, da Stoker der einzige andere Mensch ist, dem ich traue, und er hat sich nicht dazu erbötig gemacht.«

»Touchée«, sagte sie gelassen.

Sie schwiegen eine ganze Weile, und als sie das Gespräch wieder aufnahmen, drehte es sich um Unterschiede zwischen der feinen Gesellschaft in London und in Dublin. Er schilderte ihr das Leben in der irischen Hauptstadt und deren Umland, Patronatsfeste, Festspiele und andere Gelegenheiten, bei denen die Iren feierten, mit so großer Lebhaftigkeit, dass sie sich zu freuen begann, all das bald mit eigenen Augen sehen zu dürfen.

In Holyhead stiegen sie auf die Fähre um und suchten nach einer kurzen Mahlzeit ihre Kabinen auf. Zwar würde die Fähre schon vor Morgengrauen in Kingstown, dem Hafen von Dublin, anlegen, doch brauchten die Passagiere nicht sogleich an Land zu gehen, sondern durften ausschlafen und in Ruhe frühstücken.

Nach der Ausschiffung in Kingstown konzentrierte sich Charlotte so sehr darauf, weder Narraway noch den Gepäckträger aus den Augen zu verlieren, dass sie nicht dazu kam, ihre Umgebung zur Kenntnis zu nehmen. Bei der Fahrt in die Stadt, die gerade erwachte, sah sie, wie sich die vom Regen

Er schien ziemlich genau zu wissen, in welchem Teil der Stadt er eine Unterkunft für sie beide suchen wollte, denn er hatte dem Droschkenkutscher exakte Anweisungen gegeben, ohne ihr Näheres zu sagen. Während er hinaussah, beobachtete sie sein Gesicht, auf dem im scharfen Licht des frühen Morgens noch die kleinsten Fältchen um Mund und Augen zu sehen waren. Das ließ ihn älter und weit weniger selbstsicher erscheinen als sonst.

Sie fragte sich, woran er sich wohl erinnern mochte, während er den Blick durch die ihm sicherlich vertrauten Straßen gleiten ließ. Ein wie großer Teil der Leidenschaft oder des Kummers in seinem Leben mochte sich hier abgespielt haben? Sie war froh, das nicht zu wissen, und schon der bloße Gedanke daran kam ihr vor wie ein unerlaubtes Eindringen in seine Privatsphäre. Es wäre ihr recht, das nie zu erfahren.

Sie musste an Daniel und Jemima denken und hoffte, dass Minnie Maude gut mit allem zurechtkam. Es hatte so ausgesehen, als ob die Kinder sie gut leiden könnten. Zweifellos war die junge Frau ihrer Aufgabe gewachsen, sonst hätte Gracie sie kaum empfohlen. So sehr sie Gracie ihr Glück gönnte, so sehr fehlte sie ihr bei Gelegenheiten wie dieser.

Gleich darauf verbot sie sich diesen lachhaften Gedanken. Eine Zeit wie diese hatte es nie zuvor gegeben. Alle früheren Fälle und Abenteuer hatten sich in London oder in der näheren Umgebung der Stadt abgespielt, hier aber fuhr sie in einem fremden Land mit Victor Narraway auf der Suche nach einer Unterkunft durch die Straßen. Da brauchte sie sich wirklich nicht über Mrs Watermans Entrüstung zu wundern. Vielleicht hatte die Frau damit ja durchaus Recht gehabt. Charlotte hatte weder eine Vorstellung davon, wo sie sich befand, noch davon, auf welche Weise sie Narraway oder auch ihrem Mann helfen konnte.

Pitt war in Frankreich, hatte nicht einmal ein frisches Hemd, Socken oder Wäsche zum Wechseln mit und verfolgte jemanden, dem es nichts ausmachte, einem Mann am helllichten Tag die Kehle durchzuschneiden, so dass er verblutete und liegenblieb wie ein Sack Abfall. Zwar hatte Narraway ihm Geld geschickt, aber würde er damit auskommen? Ganz davon abgesehen war er auf Unterstützung angewiesen, auf Informationen, möglicherweise auch auf die Mitwirkung der französischen Polizei. Würde der Mann, der in Lisson Grove an Narraways Stelle getreten war, für all das sorgen? Verhielt er sich seinen Untergebenen gegenüber loyal – und war er seiner Aufgabe überhaupt gewachsen?

Schlimmer noch war der Gedanke, dass er nahezu mit Sicherheit auch Pitts Feind war, wenn es sich bei ihm um einen Feind Narraways handelte. Da Pitt von den Vorgängen in London nichts wusste, würde er seine Berichte weiterhin so abfassen, als ob sie für Narraway bestimmt seien.

Sie wandte sich von ihm ab und sah hinaus. Die Fahrt ging vorüber an hübschen Häusern aus dem 18. Jahrhundert und ab und zu auch an öffentlichen Gebäuden und Kirchen von klassischer Eleganz. Von Zeit zu Zeit erhaschte sie einen Blick auf den Liffey, der sich nicht so sehr zu winden schien wie die Themse.

Die Pferdebahnen sahen denen in London recht ähnlich, und in den stilleren Seitenstraßen peitschten Kinder Kreisel oder vergnügten sich mit Seilhüpfen.

Zweimal setzte sie an, um zu fragen, wohin sie fuhren, unterließ es aber, als sie die Anspannung und Konzentration auf Narraways Zügen erkannte.

Schließlich hielten sie vor einem Haus in der Molesworth Street im Südosten der Stadt an.

»Augenblick«, sagte Narraway, der plötzlich wieder ansprechbar schien, »ich bin gleich wieder da.« Ohne auf ihre Erwiderung zu warten, stieg er aus, ging auf das nächstgelegene Haus zu und klopfte kräftig an dessen Tür. Schon bald öffnete eine Frau in mittleren Jahren, die eine weiße Schürze trug und die Haare in einem Knoten auf dem Kopf zusammengefasst hatte. Nachdem Narraway etwas zu ihr gesagt hatte, bat sie ihn herein und schloss die Tür hinter ihm.

Mit einem Mal merkte Charlotte, dass sie fror und schrecklich müde war. Sie hatte schlecht geschlafen, teils wegen der Enge der Kabine und der ständigen Bewegung des Fährschiffs, vor allem aber, weil ihr zu Bewusstsein gekommen war, wie überstürzt sie gehandelt hatte. Während sie jetzt dort wartete, wäre sie gern an jedem anderen Ort als jenem gewesen. Vermutlich würde Pitt fuchsteufelswild sein, sobald er davon erfuhr. Und wenn er nun nach Hause zurückkehrte und die Kinder allein in der Obhut eines Mädchens vorfand, das er nie zuvor gesehen hatte? Sie würden ihm mitteilen, dass Charlotte mit Narraway nach Irland gereist war, ohne ihm den Grund dafür sagen zu können!

Sie fröstelte, als Narraway zurückkehrte, erst mit dem Kutscher sprach und dann das Wort an sie richtete.

»Hier bekommen wir ruhige und saubere Zimmer. Es ist ein durch und durch achtbares Haus, und wir werden hier niemandes Aufmerksamkeit erregen. Sobald wir uns eingerichtet

»Bitte warten Sie auf mich«, fuhr er fort. »Sie können sich unterdessen gern ausruhen. Vielleicht haben wir heute Abend eine Menge zu tun. Bedauerlicherweise dürfen wir keine Zeit verlieren.«

Er hielt ihr den Arm hin, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, und sah ihr fragend in die Augen. Offensichtlich war er um sie besorgt, doch war sie froh, dass er nichts weiter sagte. Alles Nötige war gesagt worden. Augenblicke des Zweifels waren unvermeidlich, vielleicht sogar solche, in denen sie vom unausbleiblichen Fehlschlag ihres ganz und gar verantwortungslosen Unternehmens überzeugt war. Solche Augenblicke galt es mit möglichst viel Seelenstärke und möglichst wenig Jammern zu ertragen. Auf jeden Fall musste sie bedenken, dass man seine und nicht ihre berufliche Existenz zugrunde gerichtet hatte und er derjenige war, der letztlich die Konsequenzen auf sich nehmen musste. Er war derjenige, den man der Veruntreuung von Geldern und des Verrats beschuldigte – gegen sie würde niemand solche Vorwürfe erheben.

Aber natürlich bestand eine große Wahrscheinlichkeit, dass man Pitt mit in die Sache hineinziehen würde.

»Danke«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln und sah dann zu dem Haus hin. »Es sieht sehr angenehm aus.«

Nach kurzem Zögern ging er etwas zuversichtlicher vor ihr auf die Haustür zu. Als die Pensionswirtin öffnete, stellte er ihr

»Guten Tag, Ma’am«, sagte Mrs Hogan mit munterer Stimme. »Willkommen in Dublin. Es ist eine schöne Stadt.«

»Danke, Mrs Hogan. Ich freue mich schon richtig darauf«, gab Charlotte zurück.

Narraway verließ die Pension nahezu augenblicklich. Charlotte begann ihren Koffer auszupacken und die Falten der wenigen Kleidungsstücke zu glätten, die sie mitgebracht hatte. Nur ein Kleid eignete sich für formelle Anlässe, aber sie hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, die Gewohnheit der bekannten Schauspielerin Lillie Langtry zu übernehmen und es bei jedem Anlass mit anderen Accessoires zu verändern. Um die Aufmerksamkeit der Menschen davon abzulenken, dass es sich jedesmal um ein und dasselbe Kleid handelte, hatte sie Ohrringe, eine Halskette aus Hämatit und Bergkristall sowie eine schwarze und eine weiße Spitzenmantille mitgebracht. Immerhin saß das Kleid bemerkenswert gut. Frauen würden zweifellos trotzdem merken, dass sie bei jeder Gelegenheit dasselbe Kleid trug, aber mit etwas Glück würden Männer lediglich sehen, dass sie gut darin aussah.